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Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Titel: Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Jürgs
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Lüge, erwiderten die Frauen und Männer von Bike Systems, besetzten das Werk, begannen einen »Strike Bike«, wollten ihre Fahrräder nicht nur herstellen, sondern auch weltweit selbst verkaufen. Schon nach zwei Wochen hatten sie 1800 Bestellungen, die meisten im Voraus bezahlt.
    Doch das reichte nicht. Die Bestreikten hungerten die Streikenden aus und warteten, bis sie aufgaben. Ende Oktober 2007 war es so weit. Ein Insolvenzverwalter wechselte die Schlösser aus, die Maschinen aus den Produktionshallen wurden nach Ungarn transportiert, wo die Löhne niedriger und die Renditen höher sind. Dass die Fahrradwerker trotz ihrer Niederlage Geschichte geschrieben haben, wie sie stolz und ungebrochen in der letzten Pressemitteilung verkündeten, ist zwar wahr, aber von einem legendären Ruf können die Helden von Nordhausen nicht leben.
    Heuschrecken kommen nicht nur aus fernen Ländern eingeflogen. Manche sind lediglich ein paar Kilometer von der deutschen Grenze entfernt zu Hause, und sie sind mitunter auch an nachhaltigen Ernten interessiert. Die polnischen Finanzinvestoren Fundusz Mistral und Odratrans, die neben 437 eigenen Schiffen bereits Häfen und Reedereien und Speditionen in vielen europäischen Ländern besitzen, erwarben die »Deutsche Binnenreederei«, den ehemaligen volkseigenen DDR-Monopolisten, der bis zum Umbruch 3000 Menschen beschäftigte, danach von westdeutschen Mittelständlern für nur 12 Millionen Mark der Treuhandanstalt abgekauft wurde und dann 2007 an die Investoren aus Polen ging. Die noch verbliebenen zweihundert Arbeitsplätze brauchen sie für die Verwaltung der inzwischen größten Binnenflotte Europas.
    Am Beispiel Herzberg lässt sich aber auch eine andere Geschichte erzählen, und die hat in Michael Oecknigk einen local hero . Er demonstrierte und protestierte zwar mit seinen Bürgern: »Da war von der großen Politik niemand da, da steht dann jeder Bürgermeister alleine im Regen. Egal, welcher Couleur.« Als er merkte, dass dies alles nichts nützte, dass seine Patienten in Depressionen zu verfallen drohten, griff er auf bewährte Hausmittel zurück und verordnete den Kranken eine Rosskur, die lautete: Irgendwas geht immer, umsonst ist nur der Tod.
    Zunächst verschrieb er per Rezept das Mittel sanften Tourismus und schwärmte auf der Homepage seiner Stadt über Herzbergs besondere Reize: »Das waldreiche Flachland der Umgebung der Stadt wird von sanften Hügeln durchzogen und von umfangreichen Kiefern- und Laubwäldern umgeben, die für ihren Pilzreichtum weithin bekannt sind. Malerische Auenlandschaften, Moorgebiete, Seen, Teiche und zahlreiche historische Bauten, gepflegte Parks, ein Botanischer Garten sowie Naturund Landschaftsschutzgebiete laden zu erholsamen Spaziergängen, Wanderungen und Ausflügen per Rad, Kremser oder auf dem Pferderücken ein.« Im Angebot seien außerdem ein kleiner Tierpark, ein Planetarium, eine Bibliothek und ein Schloss, das
nach der Renovierung durch einen engagierten Wessi zur Besichtigung und für Veranstaltungen freigegeben werde.
    Oecknigks Lockrufe im Internet sind zwar eine gute Idee, allerdings nicht für alle Jahreszeiten geeignet, denn zwischen November und April dürften sich selten Fremde nach Wanderungen in Wald und Moor sehnen. Er begab sich deshalb gleichfalls in die Niederungen des Alltags: »Wir überlegten, was machen wir bloß mit dem geschlossenen Standort Grohe mitten in der Stadt? Ist ja keine Ruine, ist alles im besten Zustand. Durch Beziehungen und wegen der großen Medienberichterstattung unter dem Motto ›Heuschrecken überfallen Herzberg‹ fanden wir zunächst zwei Firmen, die sich das mal anschauten, dann einzogen und einige Leute aus dem Ort einstellten. In vielen kleinen Schritten ist es seitdem gelungen, alles an neue Besitzer zu verkaufen und immerhin siebzig neue Arbeitsplätze zu schaffen. Der Fall Grohe ist Geschichte, abgehakt.« Sein Misstrauen gegenüber Managern jedweder Art ist allerdings mittlerweile groß, es gilt ein »Versprechen erst dann als eingelöst, wenn die Kohle auf dem Tisch liegt«.
    Weil im Stadthaushalt die Steuereinnahmen fehlten, handelte Herzbergs Oberhaupt so, wie er es als Familienvater machen würde, denn »ich kann nur ausgeben, was ich habe«. Er verkaufte städtisches Eigentum, hoffte dabei insgeheim beim Bebauungsantrag eines westdeutschen Investors im Rahmen des Modells unter anderem auf die Ansiedlung eines Kinos, weil das wenigsten die Jugend im Ort halten würde. Aber als den

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