Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)
irgendwie helfen könne. Nein, kann er nicht. Hier kann keiner mehr helfen.
Karl-Heinz Schindler wohnt in einem der kleinen Doppelhäuser, die in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts für die Bergleute gebaut wurden. Bevor er zu Siemens ging, fuhr er achtzehn Jahre lang im Bergwerk West als Elektriker 1200 Meter unter Tage auf Schicht. Das Bergwerk und Siemens waren für die rund 40 000 Einwohner der Stadt in Nordrhein-Westfalen die beiden Garanten dafür, dass es stets Arbeit geben würde und damit einen bescheidenen Wohlstand. Schindler hat bei beiden malocht und seine Erfahrungen gemacht.
Die nützten ihm nichts, als er, inzwischen 51 Jahre alt, über Nacht arbeitslos auf der Straße stand. Zwar wurde er zu 80 Prozent seines letzten Nettogehaltes bei einer Transfergesellschaft angestellt – wobei das Wort »Transfer« hier im Westen natürlich niemand hinterfragt wie immer sonst, wenn es um Transfers Richtung Osten geht -, begann Bewerbungen zu schreiben und machte sich, nachdem über achtzig seiner Briefe nicht mal beantwortet worden waren, daran, sich per Internet in der weiten Web-Welt umzuschauen.Wo würde das gebraucht, was er konnte?
Er stieß dabei auf eine Firma in Connecticut, die Fachkräfte suchte für den Aufbau eines Logistikcenter. Als wir an diesem regnerischen Novembernachmittag dann in einem fast leeren Café sitzen, fragt er mich, bevor ich ihn irgendetwas fragen kann,
ob ich einen Ort namens Hartford kennen würde und ob man da auch leben könne und nicht nur arbeiten? Kann man, sage ich ihm, ist eine große Kleinstadt, hat hübsche Parks, ein schönes Capitol und das berühmte Mark Twain House, in dem der Schriftsteller die »Abenteuer des Huckleberry Finn« geschrieben hat, einen eigenen Flugplatz, während es hier in Kamp-Lintfort gerade mal noch einen Busbahnhof gibt. Hartford bietet eine reizvolle Umgebung, ist außerdem nicht weit entfernt von New York, ich war mal da vor vielen, vielen Jahren, weil dort unter falschem Namen die Söhne der hingerichteten Atomspione Rosenberg wohnten.
Da erzählt mir Schindler, dass er einen Englischkurs belegt und jede angebotene Fortbildung mitgemacht habe, obwohl er sich unter den vielen jungen Teilnehmern der Kurse als alter Mann fehl am Platze gefühlt habe, dass er aber die Prüfung bestanden habe und sich den Neuanfang in den USA zutraue. Sein Häuschen wolle er verkaufen und mit seiner Frau drüben neu anfangen. Sohn und Tochter seien fertig mit ihrer Ausbildung und würden eh bald ausziehen. Er ist ein bedächtiger Mann, wachsamer Blick, seine Worte wägend. »Ich hatte schon Stunden depressiver Anfälle, weil ich das Gefühl hatte, dass es keine Chance mehr für mich geben würde. Ich habe mich aber nie aufgegeben.«
Vier Monate später rief ich ihn an und fragte, wann es losginge. Er lachte. Klang fröhlicher als damals. Schindler bleibt in Deutschland. Er hat in der Nähe einen guten Job gefunden, obwohl er schon nicht mehr daran glaubte, wird in der gewohnten Umgebung bleiben können, aber Hartford bestimmt mal anschauen, wenn er mit seiner Frau irgendwann nach New York fliegt. Die Tochter ist angestellt bei einer Fluggesellschaft in Düsseldorf, deshalb gibt es auch für Familienangehörige günstige Tickets. Denn sehen will er schon, wohin er fast ausgewandert wäre.
An einem anderen Ort, wo man auch keine Wunder mehr erwartet, sitzen die Macher eines kleinen im ungeheizten großen Saal des Rathauses, trinken Kaffee, Saft oder Wasser und blicken allesamt skeptisch auf mich, den Mann aus dem Westen. Was will
der hier in Bad Schmiedeberg? Ich will von ihnen erfahren, dem Bürgermeister, den Damen und Herren von der Arbeitsagentur, den Experten von der Regionaldirektion Sachsen-Anhalt, den Vertretern vom Wirtschaftsministerium in Magdeburg, wie sie es geschafft haben, die Arbeitslosigkeit ausgerechnet hier am Ende der Welt Ost innerhalb eines Jahres von 15,6 Prozent auf 7,8 Prozent zu senken, obwohl sich kein einziger neuer Betrieb angesiedelt hat.
Ganz einfach: Sie brachen die Gesetze. Es ist nämlich gesetzwidrig, was sie machten – staatliche Gelder für ALG 1, Wohnkostenzuschuss und Arbeitsförderung in einen Topf zu werfen, um sich anschließend daraus zu bedienen. Das war aber die Voraussetzung für das Projekt Bürgerarbeit. Geboren wurde es von einem freien Radikalen, dem CDU-Wirtschaftsminister von Sachsen-Anhalt. Reiner Haseloff ist studierter Physiker wie seine große Vorsitzende und immer bereit, ein
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