Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)
Statt auf Chemie und Kohle setzten sie im heute »Ferienland an der Goitzsche« genannten ehemaligen Industriegebiet auf sauberes Wasser und Touristik. Genügend Geld für den Umbau stand zur Verfügung, rund fünfzig Millionen Euro Fördermittel aus verschiedenen Subventionstöpfen. Weil Bitterfeld 6000 seiner einst 32 000 Einwohner durch Abwanderung verlor, weil in Wolfen von 44 000 nur noch 24 000 übrig blieben, gaben sich die beiden abgemagerten Städte der Not gehorchend das Ja-Wort und schworen sich Treue. Es war keine Liebesheirat, sondern eine klassische Vernunftehe, ist aber für beide eine Zugewinngemeinschaft geworden.
Im gefluteten riesigen Braunkohlekrater entstand eine Seenlandschaft mit Bootshäfen, an den Ufern Restaurants mit einer Strandpromenade und sogar einem Amphitheater. Vom 28 Meter hohen Pegelturm kann man an klaren Tagen, die es jetzt oft gibt, das dreißig Kilometer entfernte Leipzig sehen. Die Liste der Errungenschaften ließe sich fortsetzen: ein neues Rathaus und ein Sportbad, finanziert aus den reichlich fließenden solidarischen Spenden nach der Flutkatastrophe 2002. Ein sauberer Chemiepark mit vierhundert kleinen Unternehmen, die sich dort angesiedelt haben. Die DDR-Altlasten, giftige Restbestände der einstigen Dreckschleudern, sind auf Kosten des gesamtdeutschen Steuerzahlers von Staats wegen entsorgt worden, darum mussten sich die Neuen nicht kümmern. Eine Solarzellenfabrik ließ sich auf sauberer Erde nieder und schuf fast 1500 Arbeitsplätze. Rund 50 000 Touristen kamen im vergangenen Sommer und bestaunten diese Wende. Die Prognosen für die nächsten Jahre sind rosig, gehen von zweistelligen Steigerungsraten aus.
Andere Städte und Landschaften hatten weniger Fortune oder auch Glück. Manche scheiterten an unfähigen Managern. Beispielhaft für Misswirtschaft ist das einst der Öffentlichkeit als Leuchtturm des Ostens verkaufte Projekt, eine Chipfabrik bei Frankfurt an der Oder, wo modernste Halbleiter gebaut werden sollten, aber nie die Produktion begann. Die Ruinen immerhin sind eine Attraktion, schon von der Autobahn aus zu sehen – eine tote Halle und eine Fußgängerbrücke, über die laut Planung mal täglich 1300 Menschen an ihre Arbeitsplätze hätten eilen sollen. Still ruht im Rohbau das in den Sand gesetzte Kapital, 300 Millionen Euro waren es bis zur Pleite Ende 2003 insgesamt, die Hälfte davon stammte aus Steuermitteln. Nur die Männer vom Wachschutz, engagiert, um mögliche Plünderer zu vertreiben, haben langfristig zu tun.
Die Bewacher der ehemaligen Fertigungshallen des Handy-Herstellers BenQ Mobile in Kamp-Linfort im weit entfernten Westen treten ähnlich martialisch auf wie ihre Kollegen im Osten. Auf dem riesigen Parkplatz, auf dem die einst vielen Mitarbeiter ihre Autos parkten, bevor sie im Werk an die Arbeit gingen, wächst längst Unkraut zwischen den Steinplatten. Der Weltkonzern Siemens hat Ende Januar 2007 den Betrieb eingestellt. Bilanz: 1,2 Milliarden Euro Schulden, 4393 Gläubiger, 1700 Mitarbeiter, die freigesetzt wurden, wie es in der Sprache derer heißt, die für solche Pleiten verantwortlich sind und für ihre Managementfehler am Ende auch noch Millionen an Abfindungen kassieren, falls sie dann endlich auch selber in die Wüste geschickt werden. Die Zurückgelassenen suchten nach Zukunft, und viele fanden keine andere mehr außer Hartz IV. Insolvenzverwalter Martin Prager ließ in den Hallen, in denen einst 60 000 Handys pro Tag hergestellt wurden, aber offenbar nicht verkauft werden konnten, die Leiche in mühsamer Kleinarbeit zerlegen und versteigerte dann die einzelnen Teile meistbietend – von Relaisboxen bis zu Etikettendruckern, von Stühlen bis zu Werktischen, von Staubsaugern bis zu Mikroskopen.
Erst ein Jahr zuvor hatte der taiwanesische Handyhersteller
BenQ die Handysparte von Siemens übernommen, zusätzlich mit vielen Millionen alimentiert vom Münchner Konzern, der damals noch als Repräsentant für Güteklasse Made in Germany galt, eine deutsche Festung ehrbarer Kaufleute, denn der peinliche Schmiergeldskandal, der Siemens viel Renommé kostete, war noch nicht aufgedeckt worden. Das alles ist bereits Geschichte, als ich mit Karl-Heinz Schindler, der seit 1997 schon beim BenQ-Vorgänger Siemens Mobile als Elektriker beschäftigt war, über den Parkplatz Richtung Schutzgitter gehe. Er will mir aus der Nähe zeigen, wo er einst gearbeitet hat. Es dauert keine zwei Minuten, bis jemand von der Security fragt, ob er uns
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