Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)
geprägt.
Dabei sind es manchmal ganz banale Ursachen für die tief sitzenden Gefühle, noch immer minderwertige Deutsche zu sein. Zum Beispiel ihre Ferienerlebnisse.Weil sie an der ihnen zugebilligten Schwarzmeerküste wegen ostdeutscher Herkunft und weicher Währung nicht mal in Billigkneipen reinkamen, wo westdeutsche Proll-Touristen, die sich einen Bulgarienurlaub gerade mal so leisten konnten und bei denen es zu Hause aussah wie bei Hempels unterm Sofa, wegen ihrer harten D-Mark hofiert wurden, schleppen sie diese Erfahrung der Zweitdeutschklassigkeit mit sich herum bis heute. Obwohl sie längst nach Italien oder Frankreich oder sonstwo in die Welt reisen könnten, trauen sich viele nicht dahin, als würden sie dort noch immer als Deutsche zweiter Klasse behandelt. Richard Schröder: »Das Gefühl des Nicht-anerkannt-Werdens haben DDR-Bürger mitgebracht in die Einheit« – und sich entsprechend verhalten.
Könnte eine Erklärung dafür sein, warum viele westliche Glücksritter im Osten anfangs so leichtes Betrugsspiel hatten. Sie traten wie die Könige auf, bis die Ausgenommenen endlich merkten, dass die Angeber aus dem Westen nur Kaisers neue Kleider trugen. Erst dann begannen sie, sich auf ihre eigenen Fähigkeiten zu besinnen.
In der Nähe von Cottbus zum Beispiel, im Bundesland, das Platzecks SPD in einer Großen Koalition mit der CDU regiert, haben findige Ostler eine besondere Zukunft Made in Germany entwickelt und gemeinsam mit dem Energieriesen Vattenfall, einem global player , die Eiszeit rekonstruiert. Im Gegenzug für die Lizenz zum Braunkohletagebau muss der Konzern den Naturschützern kostenlos die durch Wegbaggern frei gewordenen Flächen überlassen. Sechs Hektar ausgebeuteter Landschaft bekamen dadurch vierzig Wissenschaftler der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus (BTU). Sie betreiben eine Klimaforschung der ungewöhnlichen Art. Beim Abbau von Braunkohle
wird Sand aus der vor zehntausend Jahren im Tauwetter endenden Eiszeit an die Oberfläche gedrückt. So öde wie im Tagebau muss es ausgesehen haben, als sich Gletscher, die alles abrasiert hatten, was wuchs, verflüchtigten und nur Geröll hinterließen. Neues Leben im Ökosystem begann damals ohne menschliche Hilfe.Versickernder Regen staute sich in einer Tonerdschicht, schuf unterirdische Wasserdepots. Es folgten Bakterien, Pflanzen, Bäume, Sträucher und Tiere.
Wie das geschah und wie lange es dauerte, bis aus toter Landschaft wieder lebendige Natur gewachsen war, können Menschen heutzutage mit Hilfe modernster Technik nachvollziehen. Tonerde dichtet die Brache nach unten ab, damit sich da Regenwasser sammeln kann, darüber liegt der von den riesigen Maschinen aufgeworfene Sand. Nun soll zwölf Jahre lang natürlich wachsen, was auch immer da wachsen will. Die Forscher verschiedener Fachrichtungen können bereits Gräser und Bäume und sogar einen See mit fünfzig Metern Durchmesser dort vorweisen, wo vorher nur Geröll und Sand zu sehen waren. Aber sie wollen mehr, sie wollen ganz pragmatisch Nutzwert für die Zukunft und ein paar Antworten auf allgemeine Fragen. Wie kann man sich auf Dürren in trockenen Sommern in der Lausitz, wie auf schmelzende Gletscher in den Alpen, wie überhaupt auf künftige Klimaveränderungen vorbereiten? Ihr ungewöhnliches Experiment wird von Vattenfall gespannt beobachtet. Die heutigen Manager des Energiekonzerns wittern für ihre Nachfolger von übermorgen interessante Geschäftsfelder.
Dass man auch in einer toten Landschaft neues Leben wecken kann, ist in Bitterfeld und Wolfen bereits sichtbar. Das berüchtigte Chemiedreieck, in dem sich zu DDR-Zeiten die Wäsche verfärbte, wenn sie draußen hing, und drinnen die Bronchien derer, die hier lebten und arbeiteten – in den Kohlegruben, in der Filmfabrik Wolfen, in der Chemieindustrie -, war selbst für die Verhältnisse einer maroden Planwirtschaft, in der prinzipiell Umweltschutz als subversive Taktik des Klassenfeindes galt, um das DDR-System zu destabilisieren, beispiellos verdreckt. Die Stadt
Bitterfeld, wo einst im Bitterfelder Weg linientreue Dichter auf ideologiestarke wortarme Sprache eingeschworen wurden, hätte trotz der großen Konkurrenz aus dem Norden Frankreichs oder Belgiens oder Englands im Wettbewerb um die hässlichste Stadt Europas jederzeit gewonnen. Zu retten war da nichts mehr, als nach dem Umbruch die wahre Lage offensichtlich wurde und gen Himmel stank. Also half nur eine Totaloperation.
Und die gelang.
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