Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)
Experiment zu wagen, um neue Erkenntnisse zu gewinnen. Seine Idee, die er gemeinsam mit »meinem Sparringspartner« Rainer Bomba entwickelte, einem zupackenden, unsentimentalen Wessi, damals oberster Arbeitsvermittler für Sachsen-Anhalt und Thüringen, mittlerweile Chef der bayerischen Arbeitsagentur, klingt in der Theorie gut: Man suche nach gemeinnütziger Tätigkeit für Langzeitarbeitslose und biete ihnen rund 800 Euro brutto dafür, dass sie sich von einer kommunalen Gesellschaft, bei der die Gelder aus den drei Töpfen gesammelt werden, anstellen lassen. Befristet zwar, aber sozialversicherungspflichtig.
Aber wie setzt man diese Utopie praktisch um?
Haseloff holt aus, schiebt die Drucksachen achtlos zur Seite. Diese Geschichte kann er aus dem Stegreif erzählen, die würde er mit allen Zahlen auch parat haben, falls man ihn nachts um drei Uhr weckt und zu einem Rednerpult schleppt.
Ich höre ihm zu.
Er war zwischen 1992 und 2002 Leiter des Arbeitsamtes in Wittenberg, hatte dort »als Kunden alle die wieder getroffen, mit denen ich einst, Hosen voll, gegen die Stasi auf dem Marktplatz
stand«, und gemerkt, wie im Laufe der zehn Jahre deren Gesichter immer resignierter, älter, grauer aussahen, weil es einfach keine Jobs gab. »Wir haben hier im Osten keine strukturelle Arbeitslosigkeit, sondern eine durch die Transformation bedingte.« Deshalb suchte er nach einer Alternative für die Menschen, die ohne eigene Schuld Opfer dieser Transformation von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft geworden sind. »Wir haben uns gefühlt wie in einem Hamsterrad, egal, wie viele und welche der üblichen Instrumente wir benutzten, um den Leuten eine Perspektive zu bieten.«
Sie wollten Arbeit finanzieren, statt Arbeitslosigkeit zu alimentieren. Was er und Bomba in Bad Schmiedeberg anstießen, finanziert aus Mitteln eines EU-Sozialfonds und unter wissenschaftlicher Begleitung des Projekts, schien die Quadratur des Kreises zu sein. Denn eines stand von Anfang an fest: Es gab nicht mehr Geld, im Rahmen des Etats musste nur anders verteilt werden, was zur Verfügung stand. Obwohl man das nicht darf, weil es in der Sprache der Beamten »ordnungspolitisch« nicht gestattet ist, muss man es halt wollen. Haseloff wollte.
Auch in dieser Beziehung ist er sich mit seiner Kanzlerin einig. Je mehr Bürgermeister und Landräte über die Feinheiten der Bürokratie lernen, je mehr sie darüber erfahren, was nach Verwaltungsparagraf XY erlaubt ist und was nicht nach dem guten deutschen Prinzip, das habe man noch nie so gemacht und da könne schließlich jeder kommen, desto geringer wird ihre Bereitschaft, etwas zu riskieren. Die gegebenenfalls hilfreiche Ausrede, man habe aus Unwissenheit gehandelt, wird im bürokratisch geeinten Deutschland inzwischen nicht mehr akzeptiert.
Was jedoch in keinem dieser Paragrafen steht, ist der Faktor Mensch. Stefan Dammhayn, ehrenamtlicher CDU-Bürgermeister von Bad Schmiedeberg, der am eckigen Tisch mit den Experten saß, die mir das Modell in allen Feinheiten erklärten, aber lange Zeit still blieb und nur den anderen zuhörte, kann das plastischer beschreiben. Er ist in seinem Hauptberuf Lehrer. »Ich merke die positiven Folgen unseres Versuchs sogar an den Kindern, die
ich unterrichte. Wenn Mutter und Vater morgens zur Arbeit gehen, statt sich noch einmal im Bett umzudrehen, weil es draußen nichts zu tun gibt für sie und sie nirgends erwartet werden, haben auch ihre Töchter und Söhne wieder das Gefühl, dass ihre kleine Welt zur bewährten Ordnung zurückgefunden hat. Also: Man arbeitet, man geht nach Hause, man isst, man sitzt zusammen, man plant was fürs freie Wochenende, man spart vielleicht sogar für gemeinsame Ferien, man hat wieder was fürs Leben.«
Von diesem Gefühl, wieder ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft zu sein, endlich wieder gebraucht zu werden, berichteten mir alle, mit denen ich außerhalb des Rathauses sprach. Nicht die Höhe der Summe ist für sie wesentlich, sondern dass die 800 Euro selbst verdienter Lohn sind für geleistete Arbeit und nicht ein Almosen des Staates, das ihnen eh zusteht. Oder eine Transferleistung aus dem, verglichen mit ihnen hier im Osten, trotz aller Probleme eben immer noch reichen Westen, für die sie dankbar sein müssten. Die meisten hüben erwarten wenigstens Dankbarkeit, wenn sie schon Jahr für Jahr Milliarden transferieren müssen, und solange die Ostdeutschen in dieser Dankbarkeitsfalle stecken, wird sich am schwierigen
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