Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)
DDR-Politik, wo Abtreibungen seit 1972 ohne jede öffentliche
Diskussion, wie sie dann in der Bundesrepublik vehement geführt wurde, erlaubt und Mittel zum Zweck der Familienplanung oder gar Urlaubsplanung waren. Das daraufhin anhebende Geschrei, er habe pauschal alle Frauen im Osten beleidigt, verbunden mit der Forderung, er solle sofort zurücktreten, ließ ihn zwar nicht unberührt, aber der Mann aus Wittenberg stand, weil er gar nicht anders kann, zu seinen Worten. Er bestritt die Absicht grober Verallgemeinerungen und berichtete stattdessen lieber von seinen Erfahrungen als Frauenarzt in der DDR. Richard Schröder gab ihm recht, weil der Staat Abtreibung sogar als Instrument für die »höhere Verfügbarkeit« von Arbeitskräften ohne störende Schwangerschaft benutzt habe. »Und weil darüber nicht geredet wurde, hält diese Prägung, diese DDR-Mentalität, bis heute an.« Die aktuellen Fälle von Kindstötung allerdings hätten damit nichts zu tun. Das gestand dann Böhmer in einer öffentlichen Erklärung vor dem Landtag ein.
Der Herr Ministerpräsident scheut sich grundsätzlich nicht, Unbequemes zu verkünden. Ob das allen gefällt, auch denen in seiner Partei, interessiert ihn nur am Rande. Kaum jemand wünsche sich zwar die DDR zurück, aber alle hätten heute etwas zu jammern. »Viele wollen nicht mehr hören, wie uneffektiv das damalige System war und wie weit wir, gemessen an dem, was war, inzwischen trotz aller Schwierigkeiten gekommen sind. Uns im Osten fehlt insgesamt eine gewisse Leichtigkeit des Seins, insofern sind wir noch viel deutscher als die im Westen.« Er sieht das gelassen als ein Problem nicht allein der Ossis, sondern als Bestandteil der psychischen menschlichen Grundstruktur. Je beschwerlicher das Leben sei, desto mehr halten Menschen zusammen.
Auf die drüben bezogen kann er das mit Bananen erklären, und dass ich beim Wort »Bananen« schon grinse, weil sich Ossis und Bananen für Westler automatisch zu einem gemeinen Bild fügen, entgeht ihm nicht. »Wenn sich in einem Betrieb herumsprach, dass es irgendwo zwischen elf Uhr und zwölf Uhr Bananen geben würde, ging die eine Hälfte der Arbeiter da hin, die anderen arbeiteten für sie mit, und die einen brachten den
anderen dann auch Bananen mit. Das schweißt zusammen. Die DDR-Gesellschaft hatte eine Art Lagermentalität aufgrund des gemeinsam erlebten Mangels. Diese Symptome würden aber in der Schweiz oder im Westen genauso auftreten, wenn man dort unter Verhältnissen wie einst hier leben müsste. Sind also nicht typisch für uns.«
Real vorhandene Arbeitslosigkeit wurde hinter den geschlossenen Toren der DDR-Kombinate abgelagert. Falls es in denen mangels Material mal wieder nichts zu tun gab, fegten Arbeiter eben dreimal den Hof oder suchten, von den Genossen spöttisch zu »sozialistischen Spähtrupps« ernannt, nach Ersatzteilen für reparaturbedürftige Maschinen. Die im Privaten üblichen Tauschdeals – besorg mir Gurken, dann verschaffe ich dir Briketts – nannten die Kombinatsdirektoren in ihren regen Beziehungen dann »Bartergeschäfte«, doch das Prinzip war das gleiche. Allerdings tauschten sie untereinander nicht Gurken gegen Koks, sondern zum Beispiel Schienen gegen eine Lieferung Reifen für den Ost-Brocken W 50, der bis heute in vielen Ländern der Dritten Welt unverwüstlich seine Spuren hinterlässt, obwohl seine Produktion vor bald zwanzig Jahren eingestellt wurde.
Alle wurden irgendwie beschäftigt, bekamen ein wenn auch manchmal leckes Dach über dem Kopf, zahlten dafür kaum Miete, verdienten alle gleich wenig, was aber fürs tägliche Brot reichte, weil Nahrungsmittel staatlich subventioniert wurden. Das ging gut, bis die Volkswirtschaft ausgehöhlt in sich zusammenfiel. Dass es danach bis heute so gelaufen sei, wie es seit dem Umbruch gelaufen ist, dass »wir trotz aller Probleme vieles hinbekommen haben, ist zwar kein Wunder, aber doch etwas, was ich uns und euch und mir sowieso gar nicht zugetraut hätte«.
Plötzlich lacht Wolfgang Böhmer. Ihm ist gerade eine Begegnung mit einem gern abfällig über den Osten und dessen Versorgungsansprüche ätzenden Politiker aus einem westdeutschen Bundesland eingefallen, das ohne staatliche Transfers schon längst pleite wäre. Er erzählt mir aus dem Nähkästchen eine feine Gemeinheit. Darüber schreiben darf ich nicht. Aber wir lästern wenigstens
gemeinsam über den Angeber, der in seiner Anekdote die Hauptrolle spielt, weil wir ihn beide für eine
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