Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)
Nichts Weltbewegendes, aber die Welt vor Ort hat es in Bewegung gebracht. Haseloff würde am liebsten Bürgerarbeit bis zur Rente finanzieren. Fürchtet er nicht, dass die Beamten sein von ihnen ja ungeliebtes Modell erledigen, seit die Bundesregierung mit dem Kommunalen Kombilohn ihr eigenes Programm
vorgestellt hat, an dem sich die Gemeinden finanziell beteiligen müssten?
Reiner Haseloff blickt angewidert. Nicht auf mich, sondern auf bestimmte ihm namentlich vertraute Gestalten, die er vor seinem geistigen Auge sieht. Er fürchtet sich nicht vor denen. Aber ob sein Argument, es sei ziemlich schwachsinnig, total verschuldete Kommunen zur Kasse zu bitten, andernfalls sie gar nicht mitmachen dürfen beim wunderbaren Kombilohn, verstanden wird, bezweifelt er. Zu viele Paragrafen, zu viele Bestimmungen stehen dagegen, und so einfach, wie es sich ein Bürgerarbeiter aus Bad Schmiedeberg vorstellt, dass Politiker einfach sagen, sieh da, es funktioniert, wir machen weiter, und nicht nur im Osten, auch im Westen., so einfach funktioniert Politik nun mal nicht. Es muss auch dann alles seine Ordnung haben, wenn es nur noch den Stillstand zu ordnen gibt.
Könnte ja jeder kommen. Haben wir noch nie so gemacht.
Sein Ministerpräsident Wolfgang Böhmer weiß zwar, dass es einer der Fehler bei der schnellen Einigung war, die Gesetze und Paragrafen, also die gesamte Bürokratie des Westens, den Brüdern und Schwestern im Osten übergestülpt zu haben, aber die einfache Frage laute nun mal, ja, welche denn sonst? Hatten doch gar keine anderen. Seit er hautnah erlebt, wie lange es dauert, bis in Deutschland Gesetze gemacht werden, ist er sicher, »dass wir nie fertig geworden wären damals, als es einfach schnell gehen musste«.
In Wittenberg, eine Dreiviertelstunde entfernt von Bad Schmiedeberg, war Böhmer bis 1991 Chefarzt im Krankenhaus Paul-Gerhard-Stift und hat als Gynäkologe viele Kinder ins Land geholt, das er seit 2002 regiert, Sachsen-Anhalt. Der in sich ruhende Mediziner, dem vieles fremd ist, was manche seiner Kollegen West auszeichnet, darunter auch das Gefühl, unersetzlich zu sein, will einfach nur das tun, was er für seine Pflicht als christlicher Politiker hält. Damals half er Menschen, auf die Welt zu kommen, heute will er ihnen helfen, in der Welt zu leben. Er stellt sich aber »nicht jeden Tag vor den Spiegel und »frage mich, wie
ich mich fühle. Das entspricht nicht meiner Mentalität.« Böhmer stand 1989 auf der richtigen Seite, aber auch das ist ihm keine große Rede wert: »Keiner von uns hat die Bewegung in der DDR mit der Absicht begonnen, den Staat abzuschaffen. Das hätten wir uns nicht zugetraut, das hat auch niemand geglaubt. Dass der eh nicht mehr zu retten war, wussten wir ja nicht.«
Natürlich auch er nicht. Er hatte andere Sorgen. Die hatten zu tun mit seinem Beruf. Unterwegs auf einer dienstlichen Reise im Westen, die er sieben Monate zuvor beantragt hatte, übernachtete Dr. Böhmer in einem Diakonischen Werk in der Nähe von Hannover. Nach dem Abendbrot waren die Schwestern früh auf ihre Zimmer gegangen, er war noch nicht müde und schaute sich im Aufenthaltsraum »irgendeinen idiotischen Film« im Fernsehen an. Plötzlich wurden in den Film Schriftbänder eingeblendet, die Mauer sei auf, kurz danach begannen die Live-Übertragungen aus Berlin. »Eindrucksvoll« nennt er das heute knapp. Das war es in der Tat für ihn, denn es gibt nur wenig, was ihn beeindruckt.
Bei der Rückreise am nächsten Tag fand er an der Grenze, wo er noch bei seiner Ausreise ein paar Tage zuvor streng kontrolliert worden war, keinen Vopo mehr, der ihm einen Stempel in seinen Reisepass hätte drücken können.War einfach keiner mehr da. »Ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass ich da jetzt wieder reinkomme ohne Stempel.« Es ging bald ohne, wie sich herausstellte. Nicht nur für ihn.
Auf die Idee, mal Politiker zu werden, wäre er in seinem ersten Leben nie gekommen. Nun ist er es, und er ist es gern.Wenn sich der Herr Professor, inzwischen ein alter Herr, mal aus dem Amt verabschiedet, ist der Mann mit den unkonventionellen Ideen, Reiner Haseloff, Favorit für seine Nachfolge. Böhmer achtet wie Angela Merkel auch im Gespräch unter vier Augen auf höfliche Distanz. In gehörigem Abstand vergrößert sich das Blickfeld, und man sieht mehr als nur das, was augenscheinlich ist.
Zum Beispiel hielt er die immer wieder für Schlagzeilen sorgenden Entdeckungen von Kindsmorden für die Spätfolgen der
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