Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)
es ans historisch Eingemachte geht, um die Verbrechen der Nazis, dann steigen in der alten Bundesrepublik die erschreckenden Aussagen der Befragten in Prozenthöhen, bei denen Demokraten die Luft wegbleibt. Sowohl bei Menschen ohne als auch bei denen mit Abitur ist die Zustimmung für die antisemitischen Behauptungen, der Einfluss der Juden sei auch heute noch zu groß und grundsätzlich würden die Juden mehr als andere Menschen mit üblen Tricks arbeiten, um ihre Ziele zu erreichen, im Westen fast doppelt so hoch wie im Osten. Zum latent vorhandenen Antisemitismus West passt die Verharmlosung des Nationalsozialismus. Die Ergebnisse nach einer Befragung von 1001 Ost- und 1050 Westdeutschen, gemeinsam im Jahre 2002 durchgeführt von der Freien Universität Berlin und der Abteilung für Medizinische Psychologie und Soziologie der Universitätsklinik Leipzig, zeigten frappierende Unterschiede zwischen Ost und West. Dem Satz »Ohne Judenvernichtung würde man Hitler heute als großen Staatsmann ansehen« stimmten selbst von den nicht so gebildeten Ostdeutschen nur neun Prozent zu, aber 21 Prozent von ihren westlichen Brüdern und Schwestern des gleichen Bildungsnotstandes. Bei denen mit Abitur waren dreimal so viele Westdeutsche wie Ostdeutsche dieser Meinung.
Es ist keine neue Erkenntnis, dass höhere Schulabschlüsse und Studium nicht automatisch bedeuten, human gebildet zu sein, nach moralischen Werten zu leben, gefeit zu sein vor nationalistischer Verführung. Das weiß man seit den Veröffentlichungen über die tragenden Säulen des Dritten Reiches, die Schreibtischmörder und KZ-Kommandanten, die sich als geistige Elite betrachteten, aber ebenso begeistert wie geistig minderbemittelte
Volksgenossen im Namen des Führers zu willigen Vollstreckern des Genozids wurden. Sie verdrängten nach der Befreiung 1945 nicht etwa ihre Schuld. Die meisten hatten gar kein Schuldgefühl und konnten deshalb, als wäre nie etwas geschehen, als hätten sie kein Blut an den Händen, zurückkehren in ihr ziviles bürgerliches Leben, um beim Aufbau der Bundesrepublik tatkräftig mitzumachen, so wie in den Jahren zuvor tatkräftig beim Aufbau von Auschwitz und Theresienstadt.
Offensichtlich ist der Schoß West bis heute genauso fruchtbar wie der Schoß Ost. Antisemitismus und Verniedlichung des Naziterrors auf der einen, Ausländerfeindlichkeit und Autoritätsgläubigkeit auf der anderen Seite. Dass die von Ressentiments angetriebenen Übergriffe in den neuen Bundesländern auffälliger sind, dass es im Osten laut Statistik pro Tag drei Überfälle auf Ausländer und Beschimpfungen bis hin zur realen Menschenjagd gibt, hat mit alltäglich gewordener Schändung von demokratischer Sitte und Anstand zu tun, mit »Sieg Heil«-Rufen in der Kirche von Templin in der Uckermark oder bei den Spielen von Dynamo Dresden, mit Hakenkreuzen auf den Grabsteinen des jüdischen Friedhofes von Eisenhüttenstadt oder dem Verbrennen von »Artfremdem« bei einem Volksfest in Pretzien, wieder Sachsen-Anhalt, darunter die amerikanische Flagge und das Tagebuch der Anne Frank. Pretziens Bürgermeister, einst Offizier der Nationalen Volksarmee, damals Mitglied der Linken, die mit ihm anschließend nichts mehr zu tun haben wollten, schaute wie achtzig andere Bürger nur zu, bis dann eine einzelne tapfere Frau eingriff und dem braunen Spuk ein Ende bereitete.
Kann es sein, dass sich die Neonazis im Osten deshalb ausbreiten können, weil sie sich der klammheimlichen Zustimmung ihrer Nachbarn gewiss sind, des Beifalls ihrer Großväter, die am Straßenrand stehend ihre Aufmärsche wohlwollend begutachten, wohingegen sich im Westen die Neonazis seltener aus ihren Löchern ans Tageslicht wagen, weil sie wissen, dass sie öffentlich geächtet werden von der nicht schweigenden Mehrheit der Bürger? Als in Solingen und in Mölln Ausländer im Feuer verbrannten,
das von Neonazis gelegt wurde, demonstrierten Bürger in hunderttausendfacher Geschlossenheit mit Lichterketten, zum Beispiel in München und in Hamburg, als Zeichen gegen die aufgeflammten Gewalttaten von rechts. Aber sind deshalb diese Deutschen besser als die anderen?
Weil sie sich ins Internet zurückziehen, wo sie nicht mehr auffallen und dort mit ihren Hetztiraden Hunderte von rechtsradikalen Homepages füllen, Tendenz steigend, ist es schwierig für den Verfassungsschutz, der eigentlichen Brunnenvergifter habhaft zu werden. Die Aufrufe zur Gewalt sind auf Servern im Ausland gespeichert und befinden
Weitere Kostenlose Bücher