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Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Titel: Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Jürgs
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sich außer Reichweite der deutschen Justiz.
    Es wäre sicher hilfreich für mich, mit einem kompetenten Juristen darüber zu reden.
    So einen gibt es im Osten.
    Der Generalstaatsanwalt von Brandenburg ist durch öffentliche Auftritte bekannt als der Mann mit der Fliege. Unter seinesgleichen, Juristen der gescheitelten Art, fällt er mit nicht beschönigendem Klartext und nicht nur optisch aus dem Rahmen.An diesem Sommertag hat er den obersten Kragenknopf seines Hemdes geöffnet, trägt keine Fliege, wie gewöhnlich die Haare lang und seinen Schnauzbart ungeordnet. Erardo Cristoforo Rautenberg, geboren in Argentinien, was seine melodischen Vornamen erklärt, aufgewachsen und biografisch geprägt in Deutschland West, wo er Jura studierte, ist 1992 vom badischen Westen in den ungepflügten märkischen Osten gegangen, obwohl seine Karriere am Bundesgerichtshof in der beschaulichen Residenzstadt Karlsruhe zu allerschönsten Hoffnungen Anlass bot. Es lockte ihn der Reiz des Neuen, das große Abenteuer Einheit. Der bekennende Romantiker, der E.T.A. Hoffmann verehrt, zog als Staatsanwalt nach Neuruppin und ist seit 1996, damals erst 43 Jahre alt, der oberste Ankläger des Landes.
    Viele Staatsdiener aus dem Westen besiedelten in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts das östliche Neuland, ließen sich als Patrioten der ersten Stunde feiern. Rautenberg war
aber um Klassen besser als die meisten der Beamten, die in ja bald blühenden Landschaften eine funktionierende Verwaltung aufbauen sollten. Dem oft schlechten Beispiel der Wirtschaft folgend, schickten ihre Vorgesetzten nicht immer die Besten, was ebenso für die grauen Herren in den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten gilt, sondern entsorgten bei dieser Gelegenheit auch eifrig die, deren Abgang begleitet wurde von Dankesprozessionen auf den Fluren der jeweiligen Behörden. Die zu den armen Verwandten Versandten bekamen zusätzlich zum Gehalt einen steuerfreien Bonus von 1400 D-Mark, von ihnen zynisch »Buschzulage« genannt. Das löste drüben, wie man sich vorstellen kann, große Freude aus, denn mit dem Busch war die Ex-DDR gemeint und folgerichtig deshalb alle, die dort lebten, als »Buschneger« abgestempelt. Mittelmäßige Juristen, nicht nur halbseidene Glücksritter, spielten sich auf als bessere Deutsche oder verbündeten sich in dieser oder jener Pizzeria, in diesem oder jenem Bordell mit denen, gegen die sie eigentlich ermitteln sollten.
    Auch aus diesem Sumpf von Arroganz und Besserwisserei, Korruption und Unfähigkeit schöpfen Neonazis heute die Zutaten für braune Brühen, die sie dann in ihren völkischen Suppenküchen anbieten.Wo es an politischen Vorbildern mangelt, weil die gewählten Etablierten versagten, spielen die Rattenfänger erfolgreich auf ihren Flöten.
    Das weiß Rautenberg. Der Jurist mit den wunderbar undeutschen Vornamen glaubt dennoch an die Stärke der Demokratie. Diesen Glauben braucht er in seinem Amt. Sonst hätte er sich längst der Resignation hingegeben und mit einem guten Buch, vorzugsweise von E.T.A. Hoffmann oder Theodor Fontane, aufs Land zurückgezogen. Er weiß aus den ihm qua Amt zur Verfügung stehenden geheimen Quellen, dass es zum Beispiel in Brandenburg nicht mehr nur darum geht, glatzige Schläger durch ein paar Schläge zur rechten Zeit nachhaltig wirksam mit dem Gewaltmonopol des Staates bekannt zu machen, sondern auch zu erkennen, dass die Neonazis von rechts außen als Minderheit in der Mitte der Gesellschaft Ost angekommen sind. Da sind sie gefährlicher,
weil sie äußerlich nicht mehr so abstoßend wirken wie die in ihrem Geiste schlagenden jugendlichen Verbindungen. Seine Kollegin Winfriede Schreiber, Chefin des brandenburgischen Verfassungsschutzes, warnte davor, sich bei künftigen Wahlen von Rechtsaußen-Kandidaten durch gesittetes Auftreten täuschen zu lassen, nur weil die auf Anhieb nicht mehr als Rechtsextremisten zu erkennen sind. Die Wölfe haben angefangen, Kreide zu fressen und sich in einen Schafspelz zu hüllen.
    Das Gefühl, es sei fünf vor zwölf, was insgesamt die Lage der Nation im Osten betrifft, dass es hier nach Weimarer Verhältnissen riecht, weil es, wie damals, auch heute an wehrhaften Demokraten fehle, mag übertrieben klingen für einen wie mich, der aus Hamburg kommt, wo es eine gewachsene, intakte Zivilgesellschaft und keine Nazistrukturen gibt. Doch rechtzeitig fällt mir ein, dass kein Anlass besteht, überheblich zu sein. Vor wenigen Jahren haben in der Freien

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