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Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Titel: Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Jürgs
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und Hansestadt über neunzehn Prozent der wahlberechtigten Bürger ihr Kreuz bei Roland Schills rechter Partei gemacht, sodass der furchtbare Jurist, der als Amtsrichter nach eigenen Angaben schwarze Angeklagte härter bestrafte als in Augen des verschwitzten Populisten reinrassige Delinquenten, in einer Koalition mit CDU und FDP vorübergehend das Amt des Innensenators und Zweiten Bürgermeisters besetzen konnte.Was aufrechten Hanseaten bis heute peinlich ist. Nachdem er vom Ersten Bürgermeister Ole von Beust, den er wegen dessen Homosexualität erpressen wollte, entlassen worden war, zog Schill nach Brasilien. Dahin hatten sich bereits 1945 die Nazis einer anderen Generation geflüchtet und sich dort sicher fühlen dürfen.
    Zivilcourage muss anerzogen und dann trainiert werden. Sie entsteht, wie nicht zuletzt die Deutschen Ost im Herbst 1989 bewiesen haben, plötzlich und überraschend über Nacht zwar auch in Situationen, wo mutiger Widerstand der letzte Ausweg ist, weil alles, was danach kommt, nicht schlimmer sein kann als das, was real bereits schlimm existiert. Doch bald wurde in den neuen Bundesländern deutlich, wie sehr mangelnde Weltoffenheit,
bedingt durch die Mauer, wie sehr fehlendes Selbstbewusstsein, bedingt durch das Gefühl, minderwertig zu sein, wie sehr die Deformation der Seelen, bedingt durch den Totalanspruch des autoritären Staates DDR, der individuelles Verhalten nicht duldete oder unter Strafe stellte, das Verhalten vieler Ostdeutschen bestimmen. Je verlorengegangener die Zeiten sind, von denen sie sich befreit haben, je frischer ihnen der Wind der Freiheit ins Gesicht bläst, desto mehr verklären sie den warmen Mief, der im Kollektiv früher auch geboten wurde, zu einer lauen angenehmen Brise und reichern den dann an mit nationalistischen Parolen.
    Die gewünschten Wärmestuben richten den vom kalten Kapitalismus Verunsicherten die Rechtsradikalen ein, dichten sie mit Brettern vor den Köpfen ab gegen Einsichten von außen, und in diese abgeschotteten Räume flüchten sich angebliche und tatsächliche Verlierer der Einheit. Neonazis verbinden den spießigen Mief des Sozialismus mit ihren nationalen Parolen, und dass Ausländerfeindlichkeit und Fremdenhass und Rassismus ganz oben auf ihrer deutschen Werteskala stehen, passt ins krude Weltbild.
    Davon profitieren bei Wahlen allerdings nicht nur die Radikalen von rechts. Wer die passenden Begriffe benutzt, kann auch von links kommend die herrschende Stimmung in Stimmen umsetzen. Der aus dem Westen stammende Politiker Bodo Ramelow wusste deshalb, dass »sich eine nicht unerhebliche Zahl der Wähler mit der Erststimme für die PDS und mit der Zweistimme für die NPD entschieden hat«. Ex-SPD-Chef Oskar Lafontaine ist viel zu intelligent, als dass er nicht genau gewusst hätte, welche dumpfen Vorurteile er ansprach, als er vor Jahren in einer Wahlkampfrede für seine Linken den Begriff »Fremdarbeiter« für ausländische Arbeitskräfte benutzte. Alles, was irgendwie fremd ist und fremd klingt, wirkt bedrohlich, schon die NSDAP hatte das erkannt und die Ängste des Volkes gnadenlos für ihre Zwecke ausgeschlachtet. Der dem Westlinken in Männerfreundschaft verbundene Ostlinke Gregor Gysi rügte ihn öffentlich, entschuldigte aber das Ganze als Lapsus.
    Gysi versucht gar nicht erst zu leugnen, dass im Osten doppelt
so viele Straftaten aus ausländerfeindlichen Motiven begangen werden wie im Westen. Er analysiert stattdessen kühl die Lage und benennt die eigentlichen Ursachen, ohne die Taten zu bagatellisieren: »Ostdeutsche fühlen sich als Deutsche zweiter Klasse. Also versuchen zu viele, jemanden dritter Klasse zu finden, weil sie sich dann erstklassiger fühlen können. Die Rechtsextremen bieten dieses falsche Selbstbewusstsein zum Nulltarif und sagen denen, schon mit deiner Geburt bist du mehr wert als Milliarden anderer Menschen, du bist nämlich ein Deutscher.«
    Neonazis vereinfachen schrecklich, und darauf fallen erschreckend viele eben rein, benutzen die verdrängte Sehnsucht nach dem einstigen Kollektiv, nennen das ihre aber Kameradschaft oder Gruppe, haben zudem wie früher die anderen auch einen an der Spitze, der allen die Richtung weist, und das kommt an. Gregor Gysi: »Es gibt Gegenden, wo andere Parteien, auch wir, gar nicht mehr vorhanden sind, da ziehen dann die Rechten hin.Vor denen habe ich Angst. Im Unterschied zu 1933 gibt es allerdings keine Verbrüderung der Wirtschaftsbosse mit den Braunen, weil eine in diesem Sinne

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