... Wie Gespenster in der Nacht
Kaye war eine enge Freundin seiner Mutter gewesen, und für Andrew hatte sie immer eine Schwäche gehabt. Sie selbst hatte nur Mädchen geboren, zierliche feenhafte Wesen mit heller Haut, anmutigen Umgangsformen und feinen Gesichtszügen. Sie hätten tatsächlich auch Elfen sein können; ihre Töchter waren Kaye immer ein Rätsel geblieben. Andrew dagegen hatte sie durch und durch verstanden. Sie war immer da gewesen, um ihm die Ohren lang zu ziehen, wenn er etwas angestellt hatte, oder ihm herzhaft auf den Rücken zu klopfen, wenn er etwas gut gemacht hatte – was seltener vorgekommen war.
„Meine Mum fragt oft nach dir“, hob er schließlich an, als noch immer kein Wort mehr von ihrer Seite kam.
Mit einem laut hörbaren Seufzer trat sie beiseite und bat ihn ins Haus. „Sieh selbst, ob du irgendwo einen Platz findest. Ich bin zu beschäftigt für so was.“
Andrew trat an ihr vorbei in die Diele, die jetzt nur noch ein Labyrinth aus Umzugskartons und zu seltsamen Skulpturen zusammengestelltem Mobiliar war. „Also stimmt es. Du ziehst aus.“
„Aye, und ich bin froh darum.“
Geschickt bahnte er sich den Weg durch das Labyrinth. Kayes Haus war nie für seine hübschen Dekorationen und seine anheimelnde Einrichtung bekannt gewesen, zumindest nicht, bis ihr Mann gestorben war und die erwachsenen Töchter ihre eigenen Vorstellungen durchgesetzt hatten. Doch es war immer blitzblank und ordentlich gewesen, die nicht zueinander passenden Möbelstücke in geradezu militärischer Präzision arrangiert. Jetzt herrschte hier das reine Chaos.
„Anbieten kann ich dir nichts“, brummte sie, als sie sich bis zum zugestellten Wohnzimmer durchgearbeitet hatten. „Der Kaffee ist irgendwo unauffindbar in der Küche verloren gegangen, und du weißt ja, was ich von Tee halte. Zu schade aber auch, dass es noch zu früh am Tag für Whisky ist, selbst für mich.“
„Ich bin nicht auf eine Tasse Kaffee vorbeigekommen.“
Kaye verschränkte die Arme mit den aufgekrempelten Flanellärmeln vor der Brust und tippte mit der makellos pedikürten Fußspitze, die aus den flachen Sandalen hervorschaute, ungeduldig auf den Boden. „Weshalb bist du dann hier? Um auf Wiedersehen zu sagen? Den Weg hättest du dir sparen können. Ich will kein großes Abschiednehmen. Ich fahre bald ab, und das war’s dann.“
„So einfach ist das? Du hast hier dein Leben lang gelebt. Dieses Land ist seit … wie vielen Generationen in deiner Familie? Drei? Vier?“
„Es ist völlig unwichtig, wie lange es in der Familie war. Jetzt ist es das nicht mehr. Jetzt gehört es eben jemand anderem.“
„Martin Carlton-Jones und Nigel Surrey.“
Kaye kniff die Augen zusammen. „Und woher genau hast du diese Information?“
Er tippte sich nur mit dem Finger an die Schläfe.
„Mr. Carlton-Jones deutete an, dass Iain Ross vielleicht einen Aufstand machen könnte. Von dir hat er nichts erwähnt.“
„Er hat dir gesagt, dass Iain nicht glücklich sein wird?“
„Und? Muss mich das interessieren?“
Andrew ärgerte sich darüber, dass er mit seiner Vermutung richtig lag. Auch wenn er mit dem Schlimmsten gerechnet hatte, so hatte er doch auch gleichzeitig gehofft, dass er sich irrte. Martin Carlton-Jones und Nigel Surrey waren Grundstücksspekulanten, die sich darauf spezialisiert hatten, in Urlaubs- und Erholungszentren für die britische Oberklasse zu investieren. Schon seit gut einem Jahr machten die beiden keinen Hehl daraus, dass sie in Druidheachd im schottischen Hochland den perfekten Erholungsort für die Reichen und Schönen sahen. Iain hatte den beiden bereits eine Abfuhr erteilt, aber nun sah es so aus, als seien sie wieder zurück. Und dieses Mal gingen sie offenbar aggressiver vor denn je.
Das Zimmer, in dem er stand, war relativ klein und schlicht: drei schmale Fenster und ein rauchschwarzer offener Kamin. Die Vorhänge waren längst abgenommen, das Kaminsims schmückte nichts mehr außer der Ruß von Jahrhunderten. Andrew nahm ein Buch aus dem Karton, der ihm am nächsten stand, und las den Titel. „Rätsel haben dich schon immer fasziniert, nicht wahr? Ich habe übrigens noch ein paar Kriminalromane von dir, die du mir geliehen hast.“
Sie wedelte abwehrend mit der Hand durch die Luft. „Behalt sie ruhig. Ich habe schon jetzt genug zu schleppen.“
„Das haben wir gemeinsam, du und ich. Ich löse auch gern Rätsel. Aber ich habe das Gefühl, dass hier ein echter Krimi abläuft. Warum sollte eine Frau, die den See so liebt wie
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