... Wie Gespenster in der Nacht
öffentlichen Anlegestelle?“
Ein letztes Krächzen brachte er noch fertig. „Um Mittag.“
Andrew hatte literweise heißen Tee mit Honig und Zitrone getrunken und alles aus seinem Medizinschrank geschluckt, was irgendwie mit Halsschmerzen, Husten oder Heiserkeit zu tun hatte, aber noch immer brachte er nur mit äußerster Anstrengung Töne hervor. Er beobachtete Fiona, die seine Gäste bezauberte, sowohl männliche wie auch weibliche. Inzwischen fragte er sich – unwillig zwar –, ob nicht vielleicht sogar etwas Positives an seiner Krankheit zu finden war. Denn hier bewies Fiona wieder einmal, wie gut sie war.
„Man sagt unserem Ungeheuer nach, dass es am Grund des Sees lebt“, erzählte Fiona jetzt den fasziniert lauschenden Gästen, „in einer Höhle, die so versteckt liegt, dass man sie, selbst wenn der See austrocknen sollte, niemals finden würde.“
„Es wurde mal davon geredet, den See trockenzulegen“, wusste Violet zu berichten. „Da war meine Mum noch ein kleines Mädchen. Ein Wissenschaftler aus Edinburgh hätte damals das Dorf fast dazu überredet. Er wollte sie unbedingt finden. Wollte es so sehr, dass ihm gleich war, ob er sie tötete oder nicht. Und wohin hätte das ganze Wasser überhaupt hingesollt, frage ich mich.“
„Einmal, als wir noch Mädchen waren, da wollte man mit Netzen den ganzen See durchkämmen.“ Muriel blickte über den Bootsrand. „Ich glaube, sie haben es damals tatsächlich versucht.“
„Das haben sie“, bestätigte Fiona. „Natürlich ohne Erfolg. Der See ist an manchen Stellen unglaublich tief, tiefer noch als der Loch Ness. So große Netze existieren gar nicht. Man hat auch überlegt, das Wasser mit Kalk zu vergiften und Elektrizität einzuleiten, um zu sehen, welche Tiere dann sterben und an die Wasseroberfläche treiben. Glücklicherweise ist man jedoch von dieser Idee abgerückt.“
Violet stand mühsam auf. Sie war jünger als ihre Schwester, die gut siebzig sein musste. Die beiden Frauen sahen einander sehr ähnlich. Beide hatten leuchtend blaue Augen, die wach unter grauen Ponyfransen hervorfunkelten. „Wo warst du genau, als du das Ungeheuer gesehen hast?“, fragte sie Gow.
„Dort drüben.“ Gow zeigte nach vorn.
„Das ist sehr ungewöhnlich“, bemerkte Fiona. „Die meisten Erscheinungen, so wird berichtet, haben nie auf dieser Seite des Sees stattgefunden. Ich frage mich, wieso Sie da die Ausnahme bilden.“
Er lächelte sein charmantestes Lächeln, bei dem Andrew ihm am liebsten an die Gurgel gegangen wäre. „Ich hatte noch nie Probleme mit den Damen.“
Violet schnaubte. „Du hattest mehr als genug Probleme mit den Damen! Ist das nicht der Grund, weshalb du in Schottland bist, Junge?“
Gow lachte. „Erzählen Sie uns von den Erscheinungen, Fiona.“
Und Fiona setzte zu der hanebüchensten Geschichte an, die Andrew je gehört hatte.
„Einst lebte ein junger Mann mit Namen Alan MacDougall“, begann sie in ihrer melodischen Stimme. „Er war der Erste, der das Seeungeheuer sah. Es ist schon so lange her, dass wir heute nicht mehr wissen, wann genau es war. Manche behaupten, dass es sich schon vor fünf Jahrhunderten begab, aber die Geschichte ist heute so lebendig wie eh und je.“
„Ich bin schon jetzt fasziniert“, warf Gow ein. „Erzählen Sie uns mehr!“
„Nun, der arme Alan grämte sich mit Liebeskummer. Das Mädchen, das er liebte, war einem anderen versprochen, und was sie anbelangte, so existierte Alan für sie gar nicht. Er war ein magerer Bursche, die großen, kräftigen MacDougalls kamen nämlich erst später.“ Sie warf Andrew ein Lächeln zu. „Der arme Alan geriet immer in die Kämpfe der Dorfjungen und bezog dann von beiden Seiten Prügel. Er war recht klein und hatte auch nicht die besten Augen. Zudem hatte er ein Narbengesicht, von den Pocken, und ein Arm war kürzer als der andere. Außerdem wird erzählt, dass er sich beim Gehen immer in die schmale Brust warf wie ein Gockel …“
„Fiona!“, krächzte Andrew.
Sie hob eine Augenbraue. „Hätte ich das nicht verraten sollen?“ Sie zuckte die Achseln. „Tut mir leid. Wie jeder MacDougall nach ihm, hatte er den Gang eines Mannes, der zweimal so groß war wie er.“ Sie zwinkerte Andrew zu. „Klingt das besser?“
Doch der funkelte sie nur an.
„Wie auch immer … Eines Tages begegnete Alan dem Mädchen, das er liebte – sie hieß Verity –, auf der Straße, die zum Schloss führte. Erwähnte ich schon, dass Verity die Tochter eines
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