Wie ich Rabbinerin wurde
drängen, sowie aus den flankierenden Angeboten auf jüdischer Seite, sich von allem abzuwenden und entweder in Israel neu anzufangen oder aber sich in das ahistorisch-messianistische Weltbild von
Chabad
zurückzuziehen. Nicht dass ich den in Mittel- und Osteuropa vorhandenen Antisemitismus herunterspielen wollte. Nicht dass ich den mittel- und osteuropäischen Juden von einer Auswanderung nach Israel abraten würde. Doch ich sehe in diesem Dreieck Vorlagen für Ersatzidentitäten, die verhindern, dass das jüdische Leben zu sich selbst kommt.
In Berlin prägen die Stätten des deutschen Judentums immer noch das Stadtbild. Mit dem Fall der Mauer sind sie plötzlich mehr als nur Monumente und Zeugnisse einer untergegangenen Welt. In der nach 1989 alle Berliner erfassenden Euphorie, jede gelebte Sekunde sei historisch, strahlen plötzlich auch die jüdischen Orte die Aura eines geistigen Erbes aus, das noch seiner Erben harrt. Das wird nicht nur von mir so empfunden. 1995 nehme ich an der Eröffnung des
Centrum Judaicum
in der restaurierten Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße teil. Der neue Direktor, Hermann Simon, zitiert in seiner Ansprache aus seiner einstigen
Haftara
. Vor 30 Jahren hat er diese Worte bei seiner
Bar Mizwa
in der Ostberliner Synagoge Rykestraße vorgetragen: »An jenem Tag erstelle ich Davids zerfallene Hütte wieder, ich verzäune ihre Risse, ihre Trümmer stelle ich wieder her …«
6. Egalitäre Minjanim
I n der Mitte der 90er Jahre habe ich einen Traum.
In diesem Traum möchte ein Bekannter, den ich noch aus meiner Nimwegener Studienzeit kenne, dass ich ihm etwas zeige. Ich weiß, was er meint. Wir sind beide in meiner Wohnung, und er möchte, dass ich ihm einen Gegenstand zeige, der für mich typisch ist. Ich schaue mich um, doch mir fällt dazu nichts ein. Alles, was sich in meiner Wohnung befindet, bedeutet mir in diesem Moment nichts. Ich bin unbestimmt und ratlos. Da sagt er: »Ich weiß, was es ist«, und geht direkt auf ein Regal zu. Darin befinden sich meine Schallplatten. Er zieht eine heraus und gibt sie mir in die Hand. Es ist das Musical
Anatevka
(
Fiddler on the Roof)
nach Scholem Alechems Roman
Tewje der Milchmann
. Doch auf dem Bild der Schallplattenhülle ist es nicht der Schauspieler Zero Mostel, der auf dem Dach fiedelt. Auf dem Dach tanzt vielmehr eine Frau. Die Frau bin ich. Und die Buchstaben über mir – der Titel des Musicals – ergeben auch nicht
Anatevka
, sondern … »Woman-Rabbi«.
In diesem Moment wache ich auf.
Der Energieschub hält mehrere Tage an. Auf der Fahrt zur Arbeit halte ich mein Auto am Straßenrand an, weil ich befürchte, gleich zu rasen und einen Unfall zu bauen.
Ich verstehe den Traum als Botschaft.
So deutlich die Aussage zu sein scheint, kommt mir jedoch zunächst nicht in den Sinn, selbst Rabbinerin zu werden. Ich fasse den Titel »Woman-Rabbi« allgemeiner auf, eher als einen Orientierungsbegriff. Die Herausforderung, die ich in meinemTraum vernehme, besteht darin, eine von Rabbinerinnen mit geprägte, moderne jüdische Kultur – in meinem Umfeld: in Berlin, in Deutschland – zu schaffen.
Auch eine berufliche Veränderung kommt mir zunächst nicht in den Sinn. Meine Arbeit befriedigt mich, ich kann mir nicht vorstellen, etwas anderes zu sein als Journalistin – wenngleich mich in letzter Zeit öfter der Verdacht beschleicht, dass Journalismus schnell zur Lebensflucht wird: Man berichtet über die Leben anderer, nimmt beschreibend an ihren Problemen teil, statt sich auf die eigenen einzulassen. Überdies ist mir aufgefallen, dass mir ein entscheidendes Kriterium fehlt, um eine wirklich gute Journalistin zu werden: die kritische Distanz. Ich berichte eigentlich nur über Themen, mit denen mich ein persönliches Interesse verbindet – und von denen ich will, dass sie die Öffentlichkeit mitbestimmen. Mitunter ertappe ich mich dabei, wie ich meine Interviewpartner zu sagen nötige, was ich selbst möglicherweise viel besser sagen könnte.
Warum sagst du es nicht gleich selbst?
, frage ich mich dann,
statt andere in deinen Reportagen jene Welt errichten zu lassen, in der du selbst gerne leben würdest.
Es ist recht lange her, dass ich etwas mit dem Berliner Gemeindegeschehen zu tun gehabt habe. Die letzten Erfahrungen sind nicht gerade motivierend.
Anfang 1990 leite ich zwei Monate das Berliner Büro der
Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung.
Heinz Galinski, der inzwischen Vorsitzender
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