Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wie ich Rabbinerin wurde

Wie ich Rabbinerin wurde

Titel: Wie ich Rabbinerin wurde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisa Klapheck
Vom Netzwerk:
Geschichte Lettlands auch die leidvollen Erinnerungen der jüdischen Bevölkerung ins öffentliche Bewusstsein zu bringen. Die von westlichen Medien fortwährend unternommene Stigmatisierung Lettlands als Hort des Antisemitismus helfe dem jüdischen Leben nicht. Sie gefährde leichtfertig das gute Verhältnis der Rigaer jüdischen Gemeinde zur neuen Regierung – und schlimmer noch: sie entfremde das Zusammenleben von Juden und Letten.
     
    Die zweite Adresse, mit der ich gekommen bin, ist das
Domus Rigensis
in der Rigaer Altstadt. Die deutschen Minderheiten in Mittel- und Osteuropa – seien sie als »Baltendeutsche« im Zuge des Hitler-Stalin-Paktes 1940 ins besetzte Polen umgesiedelt, seien sie am Ende des Zweiten Weltkrieges aus ihrer jeweiligen Heimat vertrieben worden – habe ich bislang für besonders unangenehme Träger völkischen Chauvinismus gehalten und daher herzlich wenig Empathie für sie empfunden. Entsprechend unschlüssig bin ich zunächst, überhaupt das
Domus Rigensis
aufzusuchen.
    Neben seinem Leiter, dem Stadthistoriker Peteris Blums, arbeiten dort mehrere, ebenfalls der Demokratiebewegung angehörende Letten. Für ihr Freiheitsverständnis ist es unabdingbar, den kulturellen Beitrag der Deutschen – bezeugt in den unzähligen Schlössern auf dem Lande und den vielen alten Kaufmannshäusern in der Hauptstadt Riga – wieder bewusst zu machen. Damit überwinden sie die Ära des gleichgeschalteten »Sowjetbürgers«, der seiner historischen Herkunft entwurzelt ist und nicht mehr auf die eigene Geschichte zurückgreifen kann, um daraus mögliche Impulse für Freiheit und Unabhängigkeit in der Gegenwart zu erhalten.
    Wenn sie so zu mir sprechen, fällt es mir schwer, die deutsche Geschichte in ihrem Land, das nicht mein Land ist, pauschal zu verdammen. So lasse ich mich von ihnen über dendeutschen Beitrag für die lettische Kultur belehren – lasse mich von ihrer Begeisterung für den Philosophen Johann Gottfried Herder anstecken, der in Riga gelebt hat und so etwas wie ein Vorläufer einer multikulturellen Weltanschauung ist – und lasse mich in die neuerdings geöffneten Archive führen, wo man in den deutschsprachigen Tageszeitungen Rigas vor 1940 endlich die Geschichte der Stadt erforschen kann. Und bei alledem merke ich, wie sich unter dem Einfluss der Leute im
Domus Rigensis
mein historischer Blickwinkel aus einer Verengung löst. Dabei eröffnet sich mir ein Teil deutscher Geschichte jenseits von Nationalstaat und Nationalismus – eine Geschichte von Deutschen außerhalb Deutschlands, die aus den unterschiedlichsten historischen Gründen jahrhundertelang in Regionen von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer gelebt und zusammen mit anderen Mehrheiten und Minderheiten die Vielvölkerkulturen Mitteleuropas gebildet haben.
    Die darin liegende thematische Herausforderung nehme ich an. Ich reise mit einem Kameramann jenseits der gefallenen Mauer durch jenen breiten Streifen in der Mitte Europas – und produziere in den nächsten Jahren genauso viele Fernsehreportagen über jüdisches Leben wie über den Umgang mit dem deutschen Erbe. Dem unermesslichen Schmerz, der lautlos in den vielen Geschichten von Deportation und Erschießung schreit, begegne ich nicht mit Vergleichen und Bewertungen. Ich berichte über unglaubliche Biographien weit hinter dem Eisernen Vorhang. Zugleich berichte ich über das wieder sichtbar werdende jüdische Leben – zum Beispiel über die Gottesdienste in Odessa an
Rosch Haschana
und
Jom Kippur
im ukrainischen Schriftstellerklub in der
Dschukowskaja
oder über die Feier zum 12 0-jährigen Bestehen des Budapester Rabbinerseminars, das in all den Jahrzehnten Rabbiner für die Ostblockstaaten ausgebildet hat oder über den Synagogenchor in Kaliningrad, der mit großem Erfolg statt zu Gottesdiensten zu Konzerten einlädt.
    In dieser Zeit, in der alles in Bewegung und daher alles möglich ist, nehme ich wahr, wie an den erst neuerdings zugänglichenOrten verschiedene Zeitepochen aus einer nur scheinbar restlos untergegangenen Welt nach Gehör in der Gegenwart verlangen. Dabei verbinde ich mich mit einem alten jüdischen Erbe, das zwar noch ganz vage, aber doch vernehmbar anfängt, Konturen von einem möglichen Weiter aufzuzeigen. Dieses steht jedoch im Widerspruch zu dem geistigen Dreieck, in das das jüdische Leben in Mittel- und Osteuropa gebannt ist. Dieses besteht aus einer nicht zuletzt von den Medien gepflegten Lust, Juden immer wieder in die Rolle von Opfern zu

Weitere Kostenlose Bücher