Wie ich Rabbinerin wurde
stehen ebenso wie die Männer auf, breiten das Stück Stoff vor sich aus, umhüllen damit zunächst den Kopf, sprechen die
Bracha
und legen schließlich den
Tallit
über die Schultern.
»Kommen dir Frauen mit
Kippa
und
Tallit
nicht auch ein bisschen wie Travestie vor?«, würde ich später Lara fragen. Und Lara würde meine Frage abtun: »Die Männer setzen die
Kippa
einfach auf, ohne groß nachzudenken. Aber wir Frauen zermartern uns den Kopf, ob wir das überhaupt
dürfen
!« Die Schwelle ist trotzdem noch hoch. Natürlich würde auch ich mir bald einen Gebetsschal kaufen. Aber es bedarf einiger Zeit, bis ich in meinen
Tallit
»hineinwachse« und ihn selbstbewusst in der Öffentlichkeit tragen kann.
Die Frauen sind im
Egalitären Minjan
in der Mehrheit. Ihre Gesichter sind mir teilweise von meinen damaligen Ausflügen ins Ostberliner jüdische Leben bekannt, ebenso von jüdischen Aktivitäten im Westteil der Stadt. Es sind aber auch zwei bis drei mir unbekannte Amerikanerinnen dabei, die, wie ich erfahre, schon länger in Berlin leben. Eine von ihnen, Susan Dembitz, hat diesen
Egalitären Minjan
mit initiiert. Das geschieht nach den Jüdischen Kulturtagen, die sich der Stadt Los Angeles widmen. Die feministische Rabbinerin Laura Geller von der
Reform Congregation »Temple Emanuel«
ist zu einer Podiumsdiskussion eingeladen, bei der auch ich im Publikum sitze, anschließend jedoch mit dem Gefühl des Bedauerns nach Hause gehe, da mir ein weiteres Mal vor Augen geführt worden ist, wie reich und lebendig das Judentum andernorts ist und mit welchem Mangel wir in Deutschland leben. Am Rande der Veranstaltung sprechen jedoch Susan und einige andere Frauen Rabbinerin Geller an: Was könne man tun, um das jüdische Leben in Berlin mit ähnlichen Impulsen anzufachen, wie sie in den USA schon seit Jahrzehnten gang und gäbe sind? Da das Anliegen von Frauen vorgetragen wird, empfiehlt Geller, eine
Rosch-Chodesch -Gruppe
zu gründen. Der
Rosch Chodesch
ist der Neumond. Zu talmudischen Zeitenist er ein Feiertag für Frauen gewesen. In den 70er und 80er Jahren haben sich in den USA unzählige
Rosch-Chodesch
-für Frauen gebildet, in denen sie über weibliche Erfahrungen im Judentum diskutieren, die in den traditionell patriarchalischen Strukturen kaum Platz haben. Sie erarbeiten Grundlagen für ein egalitäres und feministisches Judentum, verweben die althergebrachte Tradition mit dem Zeitgeist der Gegenwart zu einer modernen, attraktiven und pluralistischen Religion.
Die Berliner
Rosch-Chodesch -Gruppe
existiert schon seit einigen Monaten. Verschiedene Frauen – Deutsche, Amerikanerinnen und eine Russin – treffen sich zu Beginn des jüdischen Monats und diskutieren über revolutionäre ebenso wie über klassische jüdische Frauenthemen: Sie lesen gemeinsam den Bestseller der orthodoxen amerikanisch-jüdischen Feministin Judith Plaskow
Und wieder stehen wir am Sinai
, lernen, wie man
Challa
backt oder aber die
Zizit
des
Tallit
knotet.
So harmlos das gemeinsame Ansinnen erscheint – dass Frauen gleichberechtigt mit Männern beten –, so bahnbrechend ist es dennoch für eine Erneuerung jüdischen Lebens in Deutschland. Der
Egalitäre Minjan
hat eine Sammlung von Gebeten auf Kopien zusammengestellt. Viele stammen aus amerikanischen
Sidurim
, vor allem aus dem Gebetbuch der »rekonstruktionistischen« Bewegung, aber auch aus anderen Quellen. Bislang kenne ich nur den orthodoxen
Sidur Sefat Emet
mit seinen für mich undurchschaubaren groß und klein gedruckten hebräischen Bleiwüsten. Die Kopiensammlung des
Egalitären Minjan
macht hingegen von vornherein die Struktur des Gottesdienstablaufes ersichtlich: seine unterschiedlichen Partien, Schwerpunkte und Inhalte, was wann und warum gemacht wird. Stets sind mehrere Möglichkeiten angegeben – insbesondere in Bezug auf die Anrede Gottes. Ich kenne nur:
Baruch ata adonaj elohejnu melech ha’olam
– »Gesegnet bist du Herr, unser Gott, König der Welt«. Aber hier stehen Alternativen wie:
Brucha at Jah schechina ruach chej ha’olamim
– »Gesegnetbist du Jah, [weibliche] Einwohnung Gottes, Geist des Lebens der Welten«. Hier wird in den Segenssprüchen nicht nur der »Gott der Väter« – Abraham, Isaak und Jakob – angerufen, sondern genauso der »Gott der Mütter« – Sarah, Rebekka, Lea und Rachel; hier wird mit weiblichen, aber genauso mit männlichen Formeln experimentiert; hier sind einige Gebete neu übersetzt, die Gott weniger als »Herrscher«
Weitere Kostenlose Bücher