Wie ich Rabbinerin wurde
historischen Bedingtheiten der Gegenwart zur Sprache zu bringen. Die Menschen, die ich in Riga kennenlerne, zeigen mir die historischen Bedingtheiten ihres Landes in einem fürmich neuen Licht. In diesem treten vor allem zwei Gruppen zum Vorschein, die in den Jahrhunderten vor der »Entnationalisierung« die kulturelle Geschichte Lettlands mit geprägt haben, jedoch in den vergangenen Jahrzehnten verschwiegen worden sind – die Juden und die Deutschen.
Ich bin mit zwei Adressen angekommen. Beide zusammen enthalten die zwei Spuren, auf denen ich in den folgenden Jahren mein Selbstverständnis als Jüdin in Europa ausloten werde. Die eine ist das von Margers Vestermanis gegründete Jüdische Dokumentationszentrum in Riga, die andere das vom lettischen Stadthistoriker Peteris Blums betriebene
Domus Rigensis
, das den deutschen Einfluss auf die lettische Kultur dokumentiert.
Das Jüdische Dokumentationszentrum befindet sich im einstigen Jüdischen Theater, in dem auch die Jüdische Gemeinde residiert. Als ich das monumentale Gebäude betrete, empfängt mich im Eingangsbereich ein vertrauter, jedoch spätestens seit meiner Israelreise ambivalenter Anblick: Quer durch die Eingangshalle hängt eine Schnur mit aneinander gereihten israelischen Wimpeln; Poster mit glücklichen israelischen Gesichtern und malerischen israelischen Landschaften verweisen auf eine Tür, hinter der sich offensichtlich das Büro der
Jewish Agency
befindet. Sie hilft den hiesigen Juden bei der
Alija
. Eine Million Juden aus der ehemaligen Sowjetunion wandern in diesen Jahren nach Israel aus.
In der Eingangshalle stehen mehrere Menschen. Ich höre
Iwrit
. Aber nicht nur. Ich höre auch Englisch – gesprochen von einigen Männern mit schwarzen Hüten und schwarzen Anzügen, den Kennzeichen der »orthodoxen« Juden. Es sind Anhänger der messianistischen
Chabad
-Bewegung, die – ähnlich wie die Jerusalemer
Jeschiwa
– mit so genannten
Outreach
-Programmen die Juden zur Orthodoxie zurückführen will. Hunderte, wenn nicht gar Tausende von
Chabad
-Emissären aus den USA werden in den kommenden Jahren dem gesamten jüdischen Leben Mittel- und Osteuropas einen nachhaltigen Stempel aufdrücken. Mich zieht es jedoch nicht zu solchen, von außen herangetragenenjüdischen Lebensangeboten. Ich suche vielmehr die inneren Anknüpfungspunkte des hiesigen jüdischen Lebens – wie immer sie durch die Last der vergangenen Jahrzehnte beschaffen sein mögen.
Im obersten Geschoss betreibt Margers Vestermanis sein kleines Archiv zusammen mit zwei helfenden Frauen. Wegen der Kälte tragen auch hier alle ihre Mäntel bei der Arbeit. Vestermanis begrüßt mich in einem hervorragenden Deutsch, der Sprache, die die lettischen Juden jahrhundertelang gesprochen haben. Während er mir seine Dokumentensammlung vorführt, treten immer wieder andere Besucher herein. Ich werde Zeugin einer Szene, bei der ein älterer Lette, der vom Lande nach Riga gekommen ist, Herrn Vestermanis einen Gegenstand übergibt, den ihm ein Jude 1941 zur Aufbewahrung anvertraut hat, der jedoch nicht mehr zurückgekommen ist. Hier im Dokumentationszentrum sei der Gegenstand an einem besseren Ort aufbewahrt als bei ihm zu Hause. Für diesen Mann ist es die erste Gelegenheit, über seine bedrückenden Erinnerungen an die Judenerschießungen von 1941 zu sprechen. Er weint, obwohl er selbst nicht betroffen gewesen ist, und wirkt beim Weggehen geläutert. Endlich gebe es einen Ort, zu dem man kommen kann, um nach einem halben Jahrhundert seine Erinnerungen zu erzählen oder Dokumente und Gegenstände abzugeben, die darlegen, welches jüdische Leben einmal diese Region mit ausgemacht hat.
Vestermanis hat in den lettischen Tageszeitungen eine Debatte über das Ausmaß der Kollaboration der lettischen Bevölkerung bei der Ermordung der jüdischen Bevölkerung angestoßen. Weite Teile der lettischen Bevölkerung bestreiten ihre Mitverantwortung an den Massenerschießungen im Jahre 1941. Ehemalige lettische S S-Mitglieder haben sich sogar in einer Organisation zusammengeschlossen und schaden mit ihren Aktivitäten dem politischen Ansehen Lettlands. Gleichzeitig empört sich Vestermanis auch über Berichte, die neuerdings vor allem in westlichen Medien erscheinen und pogromähnliche Zustände in Lettland behaupten. Gerade die lettische Demokratiebewegunghabe bei einer ihrer ersten Demonstrationen eine Entschuldigung gegenüber den Juden ausgesprochen und angekündigt, zusammen mit der verdrängten
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