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Wie ich Rabbinerin wurde

Wie ich Rabbinerin wurde

Titel: Wie ich Rabbinerin wurde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisa Klapheck
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auch um zu erfahren, was überhaupt die derzeitigen Themen sind. Als ich den mehrere hundert Menschen fassenden, großen Gemeindesaal betrete,erkenne ich erstmals das Ausmaß der russischsprachigen Zuwanderung. Anders als bei früheren Veranstaltungen fühle ich mich nicht mehr wie bei einem Familientreffen. Die Mehrheitssprache ist jetzt Russisch. Vorne am Pult überträgt eine Übersetzerin alle Redebeiträge. Die fortwährenden, durch die Übersetzung erforderlichen Unterbrechungen des Redeflusses verwandeln die ursprünglich enthusiastisch begrüßte Versammlung in einen sich quälend dahinschleppenden Abend. Allein schon im Zwang zur Übersetzung vernehme ich die neue Macht der Zuwanderer, die jede Veranstaltung lahmlegen kann. Die Stimmung ist geladen. Im Raum steht die immer wiederkehrende Frage: Was tut ihr für uns? Gemeint ist: Was tun die sogenannten »Alteingesessenen«, aus denen sich die Repräsentantenversammlung fast ausschließlich zusammensetzt, für die soziale Integration der Neuzuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion? Diese Frage vermag alle anderen Fragen zu verdrängen. Hilflos versuchen die Gemeinderepräsentanten dem Publikum klarzumachen, dass sie für die deutschen Gesetze nicht verantwortlich sind, die verhindern, dass dieser oder jener eingebürgert wird, dass dieser oder jener eine seiner vorherigen Existenz entsprechende Stelle findet, ja dass ehemalige Ärzte, Wissenschaftler oder Kombinatsleiter nicht mehr auf das Sozialamt angewiesen wären.
    Wenngleich gedämpft, jedoch durchgängig wahrnehmbar ist die Aggressivität zwischen der von Jerzy Kanal angeführten Mehrheitsliste
Liberal-Jüdischer Block
und der von Moishe Waks angeführten oppositionellen
Demokratischen Liste
. Wenig später würden die Animositäten in Immobilienskandalen explodieren, die im Jahre 1996 die Schlagzeilen über die Berliner Jüdische Gemeinde bestimmen und in deren Mittelpunkt Gemeinderepräsentanten stehen, die sich – so die Anschuldigung – auf Kosten von Holocaust-Opfern bereichern wollen.
    In dem Menschengewimmel, in dem ich zunächst Schwierigkeiten habe, überhaupt jemand Bekanntes auszumachen, sehe ich plötzlich in einer der Sitzreihen Lara Dämmig. Wie vor nunmehr acht Jahren in der Synagoge Rykestraße setze ichmich neben sie. Unser herzliches Wiedersehen kontrastiert mit der Stimmung im Saal und den uns kaum etwas angehenden Themen. In einer der langatmigen Übersetzungssequenzen erzählt sie mir, dass sich am kommenden Schabbat ein »Egalitärer Minjan« in einer Privatwohnung im Ostteil der Stadt trifft. Ob ich nicht Lust hätte, auch zu kommen?
     
    Ein
Minjan
bezeichnet üblicherweise eine Gruppe von zehn Männern, die als Minimum für einen jüdischen Gottesdienst erforderlich sind. Traditionell werden Frauen nicht im
Minjan
mitgezählt. Traditionell sitzen Frauen im Gottesdienst getrennt von den Männern und werden nicht zur Tora-Lesung aufgerufen. Sie üben auch sonst auf der
Bima
, dem Podest, und vor dem
Aron Hakodesch
, dem Toraschrein, keine Funktion aus. Rabbiner und Kantoren sind traditionell Männer, ebenso wie die
Gabbaim
, die Mitglieder des Synagogenvorstandes. Traditionell tragen nur Männer den
Tallit
, den weißen Gebetsschal mit den schwarzen oder blauen Streifen und den Fäden an den vier Ecken, in die der gematrische Wert der 613   Gebote der Tora eingeknotet ist. Und traditionell legen an den Wochentagen, wenn sie es denn tun, nur Männer die
Tefilin
, die schwarzen Gebetsriemen, um den Arm und über die Stirn.
    Ein
Minjan
mit dem Atribut »egalitär« gibt jedoch sofort zu verstehen, dass hier auch die Frauen all dies tun, dass sie gleichberechtigt mitgezählt werden und in jeder Hinsicht gleichberechtigt die jüdische Kultpraxis ausüben. Vor vielen Jahren habe ich in Israel am reformjüdischen
Hebrew Union College
eine Frau im
Tallit
gesehen – danach nicht wieder, außer auf Fotos von amerikanischen Gottesdiensten. Mein Schock beim Anblick dieser in einen
Tallit
gehüllten betenden Frau ist noch nicht ganz verklungen, wenngleich ich als jüdische Feministin natürlich dafür eintrete, dass Frauen auf allen Gebieten des Judentums gleichberechtigt sein müssen, also auch den
Tallit
tragen können. Als beim Treffen des
Egalitären Minjan
in Salomea Genins Wohnung die Frauen wie selbstverständlich ihre
Tallitot
aus den Taschen ziehen, spüre ich, wietief das Tabu noch in mir sitzt. Es werden Kopien mit der
Bracha
für das Umlegen des
Tallit
verteilt. Die Frauen

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