Wie ich Rabbinerin wurde
vu
, das mir fortan bei jeder Ankunft begegnen wird. Die alte Pracht der Häuser, die mich bereits im Rigaer Bahnhofsviertel empfängt, heruntergekommen zwar, jedoch immer noch voller Eleganz, kommt mir bekannt vor.
Ich war schon einmal hier.
Ich war auch schon einmal da – mit Lilos Freundinnen auf der Frauengalerie in der Düsseldorfer Synagoge, den alten Damen aus Riga, Lemberg oder Tschernowitz mit ihren Erinnerungen an Orte, in denen sie vor langer Zeit einmal gelebt und die sie mir als Kind nonverbal eingeprägt haben.
Die neue Zugänglichkeit dieser Orte bringt die alte Kulturlandkarte Mittel- und Osteuropas wieder zum Vorschein. Nationalistischer Chauvinismus, Nationalsozialismus, Kommunismus und Sowjetimperialismus haben die Bevölkerung durch Umsiedlung, Deportation, Verbannung und Vernichtung künstlich neu geordnet. Ideologien haben die Erinnerungen jahrzehntelang zensiert und kontrolliert. Jetzt, da sie ihre Bedeutung verlieren, ragen auf einmal die abgerissenen Enden der alten jüdischen Einbindung in das mittel- und osteuropäische Völkergewebe heraus. Nicht als lebendige Realität, aber auch nicht mehr nur als Mythos.
Jahrzehntelang habe ich mit Namen wie Wolhynien, Galizien oder Bukowina keine real existierenden Orte verbunden, entstammen die Geschichten der chassidischen
Rebbes
in Witebsk, Berditschew oder Bratzlaw einem ebenso fremden Kosmos wie die jiddischen Schnulzen vom
Stetele Belts.
Jetzt fahre ich zu all diesen Orten, die mir bislang nur als Mythen etwas bedeutet haben.
In Riga, der ersten Station meiner vielen Reisen, atmet ein überall spürbarer Elan der gerade gewonnenen Freiheit – trotz des wirtschaftlichen Abgrundes, in den das Land abzugleiten droht. Als ich nach einer 3 6-stündigen Zugfahrt von Berlin aus morgens um sechs Uhr am Hauptbahnhof ankomme, liegt Schnee in der Stadt. Meine lettische Zimmervermieterin trägt ihren Mantel in der Wohnung. Ich erfahre, dass in der ganzen Stadt nicht geheizt wird und es kein warmes Wasser gibt. Die gerade unabhängig gewordene Republik kann die erhöhten Ölpreise nicht zahlen, die Russland zur Strafe für die Abtrünnigkeit verlangt. Zwischen den Symptomen einer bis dahin ungekannten Armut – den Rentnern, die aus Asien herangeschaffte Textilien auf den verschneiten Straßen verkaufen, den Händlern, die in den Unterführungen Batterien von Pornomagazinen und Hehlerware feilbieten, den »Männern in Leder« vor den wenigen besseren Geschäften, die mit kurz geschorenen Haaren stupide Brutalität verströmen und sich als untere Chargeneiner sich herausbildenden Mafia zu erkennen geben –, zwischen all diesen Erscheinungen strahlt die Stadt ihre Widerstandsbereitschaft aus. Die Menschen fluchen und lachen zugleich über die Kälte. Trotz aller Ungewissheit über die Zukunft nehmen diejenigen, die ich kennenlerne, den Preis der Freiheit in Kauf und wünscht sich niemand eine Rückkehr zu den »sowjetischen Fleischtöpfen«.
Es ist auch meine Freiheit, die diese Menschen erkämpft haben und die mich herausfordert, meine Begriffe von Unabhängigkeit und Nation neu zu überdenken.
In der Stadt, die gerade erst das sowjetische Joch abgeworfen hat, tobt der Streit um die Gleichberechtigung der russischen Einwohner. Sie sind größtenteils unter Stalin in Lettland angesiedelt worden – mit dem Ziel einer systematischen »Entnationalisierung«. Gleichzeitig sind Zehntausende von Letten nach Sibirien und Mittelasien deportiert worden. Die russische Bevölkerung lebt in den Jahrzehnten vor der Unabhängigkeit Lettlands fast durchgehend begünstigt: Sie bekommt Wohnungen in den besseren Gegenden, hat bislang kein Lettisch zu lernen brauchen und fällt jetzt im Stadtbild durch oftmals trotziges Lärmen in Russisch auf. In Deutschland habe ich viele Berichte über den neuen lettischen Nationalchauvinismus gelesen. Die Menschenrechte würden missachtet – vor allem die Rechte der Russen. Durch meine Begegnungen mit den Menschen in Riga lerne ich, dass wohlklingende Argumente im fernen Deutschland, wie etwa »gleiche Rechte für alle«, leicht die verbrecherische Unterdrückungspolitik der Sowjetunion und die davon profitierenden hier angesiedelten Russen nachträglich sanktionieren – zumal Letztere keinerlei Bedürfnis zeigen, sich selbstkritisch mit der historischen Mittäterschaft auseinanderzusetzen.
Ich lerne, wie sehr sich Freiheit vor allem in der Befreiung vom Tabu konstituiert. In diesen ersten Jahren besteht sie darin, alle
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