Wie ich Rabbinerin wurde
zu sein. Die jüdische Religionspraxis ist nur eine der vielen Möglichkeiten dieser Identität. Die meisten Juden sind nicht religiös. Auch Lilo und Konrad sind es nicht. Man braucht für diese Identität nicht einmal Jude zu sein, wie Konrad selbst auch kein Jude ist. Aber die jüdische Religion weiß um den Preis, den man für diese Identität zahlt. Konrad begrüßt es deshalb, wenn seine Kinder auch am religiösen Leben teilnehmen, auch wenn er dieses selbst nicht praktiziert. Als ich mich an einem
Jom Kippur
zunächst weigere, mit Lilo in die Synagoge zu gehen, weil mich die endlosen Stunden mit hebräischen Gebeten langweilen, sagt Konrad: »Heute ist
Jiskor
. Die Mama denkt an ihren ermordeten Vater. Du solltest sie dabei unterstützen.«
Konrad identifiziert sich mit dem Außenseitertum eines Franz Kafka oder Gustav Mahler. Er will nicht als »deutscher Künstler« gelten, pocht darauf, dass »echte« Kunst nicht national gebunden sei, und fühlt sich unter seinen surrealistischen Freunden in Paris zu Hause, die ihn nicht als »Deutschen« abstempeln, sondern als »Künstler« akzeptieren. Als er Lilo heiratet, tritt er aus der evangelischen Kirche aus. Er unterstützt Lilos Engagement in der Jüdischen Gemeinde. Sie organisiert Kunstauktionen für die
WIZO
, deren Erlös karitativen Zwecken in Israel zugutekommt. So bringt sie die Künstlerszene in die Gemeinde. Konrad, der bei solchen Anlässen als Auktionator fungiert, ist unter den Düsseldorfer Juden sehrpopulär. Niemand wirft ihm vor, Deutscher zu sein. Auch seine Eltern sind in der Gemeinde geachtet: Anna, Professorin und Kunsthistorikerin, die regelmäßig Ausstellungsrezensionen in der
Rheinischen Post
veröffentlicht und ein Buch über den Maler Jankl Adler geschrieben hat, und Richard, auch er ein Kunsthistoriker, der unter den Nazis aus der Kunstakademie hinausgeflogen ist, nicht lange danach stirbt, aber wichtige Bücher über jüdische Baudenkmäler am Niederrhein und über die Synagoge in Essen verfasst hat.
Als mein zwei Jahre jüngerer Bruder, David, seine
Bar Mizwa
macht, hält Konrad eine Rede, bei der alle Gemeindemitglieder weinen. Die meisten Anwesenden der älteren Generation sind Überlebende aus Konzentrationslagern. Konrad sagt, dass er, obwohl er selbst kein Jude sei, das Judentum seiner Kinder immer gefördert habe, damit sie wissen, dass sie einen Ort haben, an dem sie immer zu Hause sind. Wo immer auf der Welt wir – David und Elisa – seien, bräuchten wir bloß am Schabbat in die Synagoge zu gehen. Wir würden dort Menschen antreffen, die allein schon als Juden Weltbürger seien – und die eine 2000 Jahre alte Geschichte des Andersseins und damit der Menschlichkeit in sich trügen, wodurch sie immer auch um die andere Seite des gerade Angesagten wüssten.
Lilo schenkt mir ein Buch von Helen Epstein:
Children of the Holocaust. Conversations with Sons and Daughters of Survivors
. Dieses Werk ist das erste dieser Art, das sich den Kindern der Überlebenden der
Schoa
widmet. Es prägt in den kommenden Jahrzehnten den Begriff »zweite Generation« und beschreibt, wie die Eltern das in der
Schoa
erlittene Trauma unbewusst an ihre Kinder weitergeben. Es beschreibt auch, wie die Kinder versuchen, sich dessen zu erwehren, dabei jedoch Gefühle von Schuld und Verrat gegenüber den überlebenden Eltern entwickeln.
In dieser Geste erkenne ich, dass Lilo versteht, was zwischen ihr und mir vorgeht. Ich will nicht annehmen, was sie mir aufzwingen will – wenn sie nachts in mein Zimmer kommt undmich weckt, um mir unvermittelt zu beschreiben, wie die Nazis ihre Großeltern, Isaak und Charlotte, abholen und das alte Paar die Treppe hinunterprügeln; oder wie die Nazis kommen, irgendetwas von ihren Eltern, Anita und David, wollen, und als Lilos Hund, ein Foxterrier namens Schuschu, bellt, diesen vor ihren Augen erschießen; oder wie sie mit französischen Kindern in der Baracke eines Arbeitslagers haust und als erste deutsche Worte »Scheiss-Jude« und »Herr Hitteler« lernt; oder wie sie nach der Befreiung monatelang nur Graupensuppe essen darf, weil ihr ausgehungerter Kindermagen kein festes Essen mehr verträgt; oder wie sie und Anita jahrelang auf David warten, der aus Auschwitz nicht mehr zurückkommt. Anfangs höre ich beklommen zu, später versuche ich, sie zu unterbrechen, dann schreie ich. Sie soll aufhören! Da ich herausgefunden habe, dass manches, was sie erzählt, allein schon zeitlich nicht stimmen kann, glaube
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