Wie ich Rabbinerin wurde
beeindruckend großen Bibliothek. Er redet über Literatur, Geschichte und Politik, mitunter auch über meine Zukunft, was ich wohl studieren würde. In ihm begegne ich einem konservativen und zugleich liberalen Ethos, das von grundsätzlicher Anteilnahme für den Anderen bestimmt ist. Herr Oudshoorn erläutert mir zum Beispiel, warum er als gut verdienender Schulrektor Mitglied der VVD, der niederländischen rechtsliberalen Partei, geworden sei. Politische Einstellungen, so erklärt er, seien relativ: Würde er aus einer Arbeiterfamilie stammen und hätte er als junger Mann um Bildung und bessere Berufschancen kämpfen müssen, wäre er möglicherweise Kommunist geworden.
Diese Souveränität, die stets einen Kern von Milde enthält, sich sogar aus ihr speist, ist typisch für seine, die Kriegsgeneration, aber schon nicht mehr für die Eltern seiner Schüler. Einer von ihnen erzählt in meiner Anwesenheit einen »Judenwitz«. Er will mich damit vor den anderen Schülern aufziehen. Ich versuche moralisch zu kontern und werfe ihm vor, die »Opfer« zu verhöhnen. Er entgegnet: »Objektiv gesehen war Hitler ein intelligenter Politiker, dem es gelungen ist, die Wirtschaftskrise zu beheben. Als Deutsche müsste dir das doch recht sein.« Mein Herz klopft ohnmächtig: »Ich bin aber Jüdin.« Er sagt mir ins Gesicht: »Mal bist du Deutsche. Und wenn’s dir recht ist, bist du wieder Jüdin.« Die anderen pflichten seinen Worten mit zustimmenden Geräuschen bei. Eine Schülerin, mit der ich ein Jahr lang das Zimmer teilen muss, erklärt zu Beginn des Schuljahres gegenüber der »Hausmutter«, dass sie bereit wäre, mit jedem Mädchen das Zimmer zu teilen außer mit einer Jüdin.Als wir beide dasselbe Zimmer bekommen, frage ich sie, warum sie keine jüdische Zimmerpartnerin wolle. Sie sagt: »Ich kann Juden nicht ausstehen. Die reden immer nur vom Holocaust und dass sie Opfer sind.«
In den zynischen Sprüchen der Schüler spiegelt sich die Unternehmerideologie der Eltern wider. Es ist ein Liberalismus der Gewinner. Wer erfolgreich ist, braucht sich um die anderen nicht zu scheren. Die weniger Erfolgreichen, die gar Gescheiterten und vor allem die »Underdogs« sind alle selbst schuld an ihrer Lage. Es gehört zu dieser Ideologie – zumindest so, wie sie in diesen Jugendlichen widerhallt –, »seine Meinung zu sagen«, das heißt ein Recht darauf zu haben, den vom Schicksal weniger Begünstigten unverblümt auf sein Unvermögen zu verweisen.
Einmal im Monat fahre ich mit dem Zug nach Hause. Die Fahrt dauert etwa fünf Stunden, ich muss mehrfach umsteigen. Die Schienen, die Zuggeräusche, meine Einsamkeit beim Warten auf den Bahnsteigen, der Anblick der Güterwaggons auf den Abstellgleisen, in die ich meinen projektionsbereiten Blick versenke, die tabuisierten Konflikte zu Hause, die sich in hässlichen Szenen zwischen Lilo und mir entladen, ebenso wie die einschüchternde, verletzende Grobheit der Schüler im Internat – dies alles verwandle ich zu einer Reise auf Gefühlsbahnen, die ich als zutiefst »jüdisch« empfinde und auf denen ich immer wieder meinen eigenen Weg ins KZ phantasiere. In dieser Zeit läuft die Serie »Holocaust«. Als meine Mitschüler und ich sie abends im Fernsehen sehen, leite ich aus dem Geflecht meiner unglücklichen Gefühle längst eine »jüdische« Identität ab, von der ich noch nicht weiß, dass sie zur selben Zeit Tausende von Juden in meinem Alter ebenfalls so oder ähnlich herausbilden. Ich werde später Jahre brauchen, um mich von ihr wieder zu befreien – es ist die Identität der »zweiten Generation«, der Kinder der Überlebenden der
Schoa
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Obwohl Lilo und Konrad um mein Leiden im Internat wissen, heißen sie diese sich in mir formende jüdische Identität dochgut. Ich soll Jüdin sein. Ich soll eine Identität annehmen, die immer wieder bewirkt, dass man anders ist und nicht dazugehört. Die damit verbundenen schmerzlichen Erfahrungen werden hingenommen, da gerade durch sie die Werte entstehen, die Lilo und Konrad bejahen. Über meine Beschreibungen der Schüler wird bei uns zu Hause gelacht. Ich stelle deren geistlose Primitivität heraus und lande damit Punkte in meiner Familie. Wir sind – schon aufgrund unserer Wahrnehmung der anderen – anders. Mit der in meiner Familie gepflegten jüdischen Identität ist es von vornherein unmöglich, zur Masse des Normalen und Durchschnittlichen, zu jeder Art von Mehrheit zu gehören. Man braucht deshalb nicht religiös
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