Wie Jakob die Zeit verlor
die Rippen. „Meine Helferzellen bekommen keine tuntigen Vornamen!“
Danach war es lange Zeit still. Jakob fühlte ihren gemeinsamen, ratlosen Atem mehr, als er ihn hörte; draußen auf der Straße, fünf Stockwerke unten ihnen, in einer Welt, die nur noch selten die ihre war, schellte eine Fahrradklingel, und der Motor eines Autos heulte auf. Irgendwo im Haus schlug ein Fenster im Wind.
„Weißt du, was ich mir manchmal vorstelle?“, sagte Marius. Sein Kopf wärmte Jakobs Seite.
„Was?“
„Dass wir das beide überleben und unser ganzes Leben Freunde bleiben. Also nicht Freunde, sondern … Freunde eben.“
„Ich verstehe schon.“
„Und dann sitzen wir eines Nachmittags irgendwo auf einer Parkbank, an so einem Tag wie heute. Die Blätter an den Bäumen verfärben sich langsam und beginnen zu fallen, aber es ist noch schön genug, um eine halbe Stunde im Freien zu verbringen, sich von der Herbstsonne wärmen zu lassen. Wir sind beide alt und grau geworden; vielleicht haben wir einen Stock, vielleicht sind unsere Rücken gekrümmt, aber wir haben überlebt. Und wir schauen auf unser Leben zurück und können sagen, dass es gut war. Trotz allem. Das ist ein so friedliches Bild.“
„Ja“, antwortete Jakob mit belegter Stimme. „Das würde mir gefallen.“
„Ich kann das nicht mehr!“, erklärte Jakob gequält. „Es ist zu viel, zu eng, zu nah.“ Das Fauchen der Kaffeemaschine unterbrach ihn, hallte durch den Raum wie die Drohgebärde eines wildes Tieres. Sie hatten sich auf neutralem Terrain in einem Café in der Innenstadt getroffen. Jakob hatte darauf bestanden, aus Angst, Stefan könnte ihm eine Szene machen. „Ich halte das nicht mehr aus“, schloss er lahm.
In den Einkaufsmeilen herrschte Hochbetrieb; Passanten bepackt mit Plastiktaschen hasteten an dem Fenster vorbei, vor dem sie saßen. Unter den strengen Augen von zwei Lehrerinnen überquerte eine Grundschulklasse in Zweierreihen den Zebrastreifen.
Am Tisch nebenan servierte der Kellner Espresso, während sich Stefans Augen zu Schlitzen verengten. Seine Lippen formten einen dünnen Strich, als könnte er durch das Zusammenziehen seiner Gesichtsmuskulatur seine wahren Gefühle verbergen. „Dasselbe hast du vor ein paar Monaten zu Marius gesagt.“ Er starrte in seinen unangetasteten Kaffee.
„Alle Gefühle, die ich habe, saugst du auf wie ein Schwamm!“, warf Jakob ihm vor. „Ich bin völlig leer!“
Stefan lachte verbittert auf und schüttelte den Kopf. „Ja, gib mir die Schuld. Mach es dir nur schön einfach.“
„Einfach? Nichts ist mehr einfach. Schon lange nicht mehr.“ Plötzlich war Jakob den Tränen nah, dabei hatte er sich geschworen, nicht zu heulen. Er wollte, dass Stefan ihn in den Arm nahm und sanft hin und her wiegte, bis er sich beruhigte. Weil er ihn nie wiedersehen würde, wollte er von ihm über den Schmerz hinweggetröstet werden. Und er wollte aufspringen und weglaufen. Diesen Mann aus seinem Leben verbannen. Frei sein.
„Du hättest dich nicht entscheiden müssen“, sagte Stefan leise.
Es klang wie das Echo des Gesprächs, das sie schon einmal geführt hatten, ein Widerhall. War er, Jakob, wirklich die ganze Zeit im Kreis gelaufen? Hatte er sich gedreht und gedreht, nur um am Ende wieder genau da anzukommen, wo er vorher schon einmal gestanden hatte? Er wollte so gerne glauben, dass er in den letzten Monaten immer die richtigen Entscheidungen getroffen hatte, dass er nicht anders hätte entscheiden können, aber er war nicht mehr sicher, ob er sich nicht etwas vorgemacht hatte.
„Vielleicht hast du recht. Vielleicht hattet ihr beide recht, du und Marius.“ Jakob ließ den Kopf hängen. „Aber ich bin nicht mutig genug. Ich bin nicht stark genug.“
„Natürlich bist du das. Du bist der Stärkste von uns dreien. Du weißt es nur noch nicht.“
Jakob blieb stumm.
„Gehst du zu Marius zurück?“ Stefan versuchte nicht einmal, um ihn zu kämpfen. Als hätte er diesen Moment kommen sehen, als hätte er schon immer gewusst, dass sie eines Tages auf diesen Stühlen in diesem Café enden würden.
„Nein.“ Jakob zog eine Grimasse und stand auf. „Ich will dich nicht mehr sehen“, sagte er. „Ich will auch nichts mehr von dir hören. Wenn du mich irgendwo zufällig siehst, geh … geh mir einfach aus dem Weg.“
„Aber …“
„Nein.“ Plötzlich war es mit seiner Beherrschung vorbei. „Ich wünschte, ich wäre dir nie begegnet“, zischte er Stefan an. „Ich wünschte, du würdest tot
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