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Wie Jakob die Zeit verlor

Wie Jakob die Zeit verlor

Titel: Wie Jakob die Zeit verlor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Stressenreuter
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hätte er ihn nicht gehört.
    Marius lag angezogen auf seinem Bett und starrte an die Decke, als Jakob die Tür aufschloss. Er sah schmaler aus als sonst, müde, und Jakob fragte sich, ob er Gewicht verloren hatte. Für einen Moment schien Marius gar nicht zu registrieren, dass Jakob vor ihm stand. Erst als er sich zu ihm setzte, schreckte er aus seinen Gedanken. Jakob deutete stumm auf seine geröteten Augen, und Marius winkte ab.
    „Geht schon wieder.“ In seine Stimme kämpfte sich erzwungene Normalität zurück. „Ich komme schon klar.“ Hieß das, er brauchte Jakob nicht? Und warum gab das Jakob einen Stich? Warum verletzte ihn das? „Du hättest nicht kommen müssen.“
    „Was? Erst rufst du an und heulst mir was vor und dann …“
    „Ich hab nicht geheult.“
    „Schön, du hast nicht geheult. Aber du wolltest, dass ich bei dir bin.“
    „Das war ein Reflex“, erwiderte Marius bitter. „Ich hab nicht nachgedacht.“
    „Na, toll“, schimpfte Jakob. „Vielleicht denkst du beim nächsten Mal nach, bevor du anrufst! Ich hab einen Krach mit Stefan riskiert, weil ich mich direkt aufs Fahrrad gesetzt habe und …“
    „Dann fahr eben wieder zurück!“
    „Das nützt jetzt auch nichts mehr. Stefan ist schon sauer.“
    „Deine Beziehungsprobleme gehen mir echt am Arsch vorbei.“
    „Verdammt, Marius, du hast doch angerufen! Warum hast du gefragt, ob ich kommen kann, wenn du …“
    „Vielleicht wäre es doch besser, wenn du ausziehst“, erwiderte Marius kalt. „Wenn du aus meinem Leben verschwindest.“
    „Was?“
    „Vielleicht wäre es besser, wenn …“
    „Das meinst du nicht im Ernst!“
    „Ach nein?“
    Jakob sah ihn fassungslos an. Dann drehte er sich auf dem Absatz herum und ging in sein Zimmer, ließ die Tür hinter sich ins Schloss knallen.
    Das Bett, das er kaum noch benutzte, seit er die meisten Nächte bei Stefan verbrachte, stand frisch bezogen und mit glatt gestrichener Bettdecke an der Wand. Marius schlief in seinem eigenen Bett, dem Einzelbett, das er aus seinem alten Kinderzimmer hierhergeschafft hatte. Tatsächlich konnte es keiner von beiden ertragen, in dem Doppelbett zu schlafen. Es fühlte sich … falsch an. Es gehörte in eine andere Zeit, eine andere Ära, es barg zu viele Erinnerungen. Manchmal, wenn Jakob es trotzdem nutzte, weil Stefan im Nachtdienst war oder er eine Pause brauchte, um sich von ihm zu erholen, hatte er das merkwürdige Gefühl, dass das Bett ihm aktiv Widerstand leistete. Dann fühlte sich das Laken kratzig an, die Decke war zu schwer, oder er hatte Albträume. Als wollte es ihm sagen, dass er nicht mehr hierhergehörte, dass er das Recht, in diesem Bett die Nacht zu verbringen, verwirkt hatte.
    Ein Klopfen an der Tür ließ ihn wissen, dass Marius sich gefangen hatte. Auch das war neu zwischen ihnen, die ungewohnte Respektierung einer Privatsphäre, die früher ihre gemeinsame gewesen war. So höflich, so distanziert, so ungelenk.
    „Es tut mir leid“, sagte Marius. Über seiner Oberlippe standen feine Schweißperlen, und er kühlte sie mit dieser unbewussten, ungeduldigen Geste, die Unterlippe nach vorne schiebend, einen Atemstoß nach oben blasend. So vertraut, so alltäglich. „Ich will nicht, dass du ausziehst. Ich bin ein bisschen neben der Spur.“
    Er setzte sich an Jakobs Schreibtisch und sah unglücklich auf die unberührten Kopfkissen. „Können wir … ein bisschen kuscheln? Nur so, ohne Hintergedanken?“
    Sie hatten den Bezug gemeinsam ausgesucht. Ein heller Blauton mit geometrischen, etwas dunkleren blauen Zeichen und Zahlen, als hätte jemand eine mathematische Formel über den Bezügen verstreut.
    „Unsere erste gemeinsame Bettwäsche“, hatte Marius an der Kasse gestrahlt. Die Verkäuferin hatte ihnen zugelächelt, und Jakob hatte nicht gewusst, ob er peinlich berührt sein oder sich freuen sollte.
    Wortlos legte sich Jakob aufs Bett. Marius kauerte sich an seine Seite, und Jakob fühlte sein Herz schlagen, erst schnell und hektisch, unstet, dann immer langsamer, bis es sich beruhigt hatte und auf eine normale Frequenz zurückgefallen war.
    „Sind es wirklich nur noch sechs?“, flüsterte er.
    Marius nickte kaum merklich. „Gerade noch ein halbes Dutzend. Ich sollte ihnen Namen geben.“
    Jakob spürte, wie ein Lächeln über seine Lippen flog, trotz allem. „Ernst und Hugo und Simon und Torsten“, ließ er sich auf das Spiel ein. „Rüdiger und Detlev.“
    „Rüdiger und Detlev? Auf keinen Fall.“ Marius boxte ihn in

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