Wie Jakob die Zeit verlor
klarmachen?
„Hm? Was?“ Philips Stimme lässt ihn auffahren. Plötzlich findet er sich in der Gegenwart wieder und starrt auf das steinerne Versprechen, das er Marius vor einem halben Leben gegeben hat.
„Du weißt schon, dass das ein bisschen … abgefahren ist, oder?“, wiederholt Philip vorsichtig. „Ich meine … vor seinem eigenen Grab zu stehen. Ich finde das gruselig.“
„Wir mussten eine Grabverfügung aufsetzen und das Ganze in aller Schnelle notariell beglaubigen lassen, ansonsten wären seine Eltern einfach über seinen Wunsch hinweggegangen. Ich hab das Geld bei Freunden zusammengekratzt und dann nach dem Studium abgestottert, als ich die Gärtnerei aufgemacht habe. Trotzdem war nur die einfachste Beerdigung drin. Ein billiger Holzsarg und ein Strauß Rosen, während seine Eltern einen dicken Kranz aus weißen Lilien neben den Sarg gestellt haben. Das hat so wehgetan.“
„Trotzdem gruselig“, beharrt Philip.
„Eher merkwürdig“, erwidert Jakob schließlich. „Aber auch erst jetzt. Früher hat es mich beruhigt. Ich dachte damals, dass ich ihn höchstens um zwei oder drei Jahre überlebe.“
Sie schweigen und Philip zündet sich eine Zigarette an, bläst den Rauch in den Frühlingsabend. Die letzten Strahlen der Sonne blitzen auf und versinken am Horizont.
„Woran denkst du, wenn du dich an ihn erinnerst?“, fragt er plötzlich. „Als Erstes, ohne zu überlegen!“
„Wozu soll das gut …“
„Jetzt mach schon! Nicht nachdenken!“
„Als wir damals nach Italien gefahren sind zum Beispiel …“
„Ja, ich weiß, Madonna und so, aber das meine ich nicht …“
„Was heißt das, du weißt? Ich habe dir noch nie davon erzählt!“
Philip hält inne. „Sorry. Ich hab … da lagen diese Zettel auf deinem Schreibtisch, und ich hab einen Blick hineingeworfen.“
„Du hast das alles gelesen?“
Philip nickt schuldbewusst.
„Ich …“ Jakob ist aufgewühlt. Am liebsten würde er Philip eine Ohrfeige verpassen. „Das war persönlich! Das geht dich nichts an!“
„Dann lass es nicht so offen herumliegen!“, kontert Philip.
„In meiner eigenen Wohnung?“
Der Junge scheint es für das Beste zu halten, Jakobs Ärger zu ignorieren. „Was ich meinte … das waren alles Szenen aus eurer Beziehung. Aber was hat Marius so besonders für dich gemacht?“
„Sein Lachen zum Beispiel“, sagt Jakob. Die Antwort springt von seinen Lippen, bevor er lange überlegen kann, und für den Moment ist sein Unmut über die Verletzung seiner Privatsphäre tatsächlich vergessen. „Ich erinnere mich an sein Lachen. Das kam so überfallartig, und man musste immer mitlachen. Ob man wollte oder nicht.“
„Und sonst?“
„An seinen Gang. Der hatte so etwas Wiegendes, als ob er sich auf einem Laufsteg befände. Ich habe Marius immer schon von Weitem an seinem Gang erkannt. Und … und ich erinnere mich an seinen Schwanz.“
„Seinen Schwanz?“, fragt Philip entgeistert, und Jakob wird rot.
„Der … der lag gut in der Hand“, sagt er verlegen. „Und …“
„Und was?“
„Nein. Das kann ich nicht sagen.“
„Ich will es aber wissen!“
„Sein Schwanz hatte ein bisschen zu viel Vorhaut, und wenn ich darauf herumgekaut habe, hat ihn das fast wahnsinnig gemacht“, platzt Jakob heraus und fängt an zu lachen. „Er konnte es kaum ertragen, und trotzdem hat es ihn total geil gemacht.“ Dann wird er plötzlich wieder ernst. „Aber ich habe vergessen, wie Marius’ Stimme klang“, sagt er traurig. „Ich kann mich nicht mehr an seine Stimme erinnern.“
Arne sitzt in einem kleinen Park auf einer verwitterten Bank und rührt selbstvergessen in einem Milchshake. Im Apartment ist ihm die Decke auf den Kopf gefallen; seit Philip nicht mehr da ist, kommt ihm die kleine Wohnung noch enger und düsterer vor.
Er ist der Einzige, der an diesem Sonntag, bei diesem Wetter eine Mütze und ein langärmeliges Hemd trägt und sich im Schatten aufhält. Alle anderen Besucher haben ihre Jacken auf dem Rasen ausgebreitet und genießen die Wärme mit geschlossenen Augen, lesen Zeitung, unterhalten sich. Aber er weiß aus Erfahrung, wie empfindlich seine blasse, sommersprossige Haut reagiert. Mehr als einmal hat er sich schon im Frühjahr einen Sonnenbrand geholt. Seitdem cremt er sich ein, sobald die Sonne Kraft genug hat, und trägt lange Kleidung.
Er hat den Park mit Bedacht gewählt. Früher einmal war er einer von seinen und Jakobs Lieblingsorten. Der Park liegt am Rande eines Platzes,
Weitere Kostenlose Bücher