Wie Jakob die Zeit verlor
umfallen.“ Stefan zuckte zusammen, als wäre er geschlagen worden, und Jakob hielt erschrocken inne. „Nein“, murmelte er. „Das natürlich nicht. Es war nicht so gemeint. Es tut mir leid.“
Hastig kramte er ein paar Münzen aus seiner Hosentasche, warf sie auf den Tisch und vermied es, Stefan ein letztes Mal anzusehen. Er wollte nicht, dass dieser Mann bemerkte, wie sehr er sich schämte. Dafür, dass er seinetwegen Marius verlassen hatte. Dafür, dass er die Zeit mit ihm so genossen hatte. Dafür, dass jede Faser seines Körpers jetzt von ihm wegwollte. Dann drehte er sich um und verließ das Café.
Als er um die Ecke gebogen war, begann er zu rennen, und er hielt erst wieder an, als das Blut in seinem Kopf rauschte und der Puls in seinen Schläfen schlug wie das Trommelfeuer eines Schnellfeuergewehrs.
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Es ist fast dunkel, als Jakob den Wagen auf dem kleinen Parkplatz neben einem Supermarkt abstellt. Obwohl er auf der Fahrt quer durch die Stadt mehr als genug Zeit hatte, sich zu erklären, hat er noch immer kein Wort über sein Ziel verloren.
„Wo sind wir?“, fragt Philip, als er aus dem Auto klettert.
„Stammheim“, murmelt Jakob. „Kurz vor der Stadtgrenze.“
„Und wir gehen jetzt hier einkaufen oder was?“
Jakob schüttelt den Kopf und schlägt einen Weg ein, der sie wegführt von dem Supermarkt, vorbei an einer langgezogenen, verwitterten Backsteinmauer, hinter der hochgewachsene Platanen die Zweige nach ihnen ausstrecken. Unter den Geruch von Erde und Gras mischt sich ein süßlicher, schwerer Duft, als hätte jemand zu viele Blumen in einen zu kleinen Raum gestellt.
Vor einem Tor aus rostigen Metallstäben bleibt Jakob stehen. Dahinter ist halb versteckt zwischen ein paar Bäumen eine kleine Kapelle zu sehen, rechts davon mehrere Reihen mit Gräbern und Grabsteinen. Ein schmaler Weg führt von der Kapelle weg, verzweigt sich wie ein Labyrinth und führt zu weiteren Grabstellen. An einem Brunnen füllt eine alte Frau ihre Gießkanne nach und wirft einen verwelkten Blumenstrauß auf den Kompost.
„Marius liegt hier begraben“, sagt Jakob.
„Krass“, antwortet Philip.
Als sie das Grundstück betreten, kommt ihnen ein Friedhofsangestellter entgegen. Er nickt ihnen zu und erinnert sie, dass der Friedhof bald schließt. Jakob läuft schnurstracks geradeaus, dann biegt er links ab, dann rechts, bis er in der Nähe eines Busches vor einem grob behauenen, grauen Stein stehenbleibt, auf dem Marius’ Name und seine Geburts- und Sterbedaten zu lesen sind, in kupfernen Lettern. Das Grab ist mit einem immergrünen Bodendecker bepflanzt, der sich über die gesamte Fläche des Grabes ausgebreitet hat.
„Kleine, weiße Blüten von Mai bis Juni, und im Herbst rote Beeren“, sagt Jakob mit belegter Stimme. Er starrt auf den Grabstein und kaut auf seiner Lippe.
„Kommst du oft hierher?“, fragt Philip.
„Nein. Nicht mehr. Früher ja. Als ich seine Mutter noch regelmäßig besucht habe. Sein Elternhaus war hier in der Nähe.“
„Und warum wolltest du jetzt hierhin?“
Jakob zuckt hilflos mit den Schultern.
Philip dreht den Kopf und betrachtet die Nachbargräber. Ein schwarzer, glänzender Stein mit den „Betenden Händen“ von Dürer, darunter zwei Namen, Eheleute. Eine dunkelbraune Marmorplatte, unter der anscheinend eine ganze Familie beerdigt ist und auf der eine Vase mit Vergissmeinnicht steht. Es gibt nur wenige Einzelgrabstellen in dieser Reihe, die meisten sind Doppelgräber – so groß wie das von Marius.
„He, was …“ Philip runzelt die Stirn. „Das … das ist nicht nur für deinen Marius, oder?“
„Nein“, erwidert Jakob schwerfällig. „Da ist noch Platz für mich.“
„Du musst es mir versprechen!“ Marius’ Atem pfeift rasselnd durch seine Lungen, und auf seiner Stirn stehen Schweißperlen. „Ich will neben dir liegen.“ Sein Blick ist insistierend, und seine Hand umklammert Jakobs Handgelenk, als er sich im Krankenbett aufstützt. Für einen Moment glaubt Jakob, dass Marius im Fieberwahn spricht, aber seine Augen sind klar. Er muss es ernst meinen.
„Sag doch nicht so was. Du wirst wieder gesund. Bestimmt.“
„Versprich es mir!“
„Aber ich habe kein Geld, um das zu bezahlen“, erwidert er verzweifelt. „Woher soll ich das Geld nehmen?“
Marius lässt sich enttäuscht auf das durchgeschwitzte Kissen zurückfallen.
„Schon gut“, sagt Jakob. „Ich … ich lasse mir was einfallen. Versprochen.“
Wie soll er das Marius’ Eltern
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