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Wie Jakob die Zeit verlor

Wie Jakob die Zeit verlor

Titel: Wie Jakob die Zeit verlor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Stressenreuter
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der Bayerischen Aids-Politik – alle Hauptrisikogruppen zum Test auf. Je früher man eine HIV-Infektion mit AZT behandele, desto größer seien die Überlebenschancen.
    An der Spitze der deutschen Charts stehen Mysterious Art mit „Das Omen“; in Großbritannien sind es Jive Bunny & the Mastermixers mit „Swing the Mood“.
    Jakob war froh, dass er schützende Kleidung eingepackt hatte, eine Windjacke und einen warmen Pullover. Manchmal, wenn der Wind von Norden kam und über die flache, langgestreckte Insel stob wie ein Jäger auf Beutezug, fuhr ihm eine Vorahnung des Herbstes in die Glieder und ließ ihn fröstelnd den Reißverschluss der Jacke zuziehen. Dann umarmte er Marius und schob ihn weg von den Dünen mit ihrer spärlichen Vegetation in ein wärmendes Kaffeehaus oder eine der Milchbars, in denen es so exotische Dinge gab wie Sanddorn-Milchshakes oder so altbacken anmutende wie Rüdesheimer Kaffee, bei dem der Kellner drei Stücke Würfelzucker mit einem Fingerbreit Asbach Uralt übergoss, den Alkohol entzündete und anschließend mit Kaffee auffüllte, bevor er das Ganze mit einem Löffel Schlagsahne abrundete. Sie saßen an dunklen, holzgetäfelten Tischen zwischen Rentnerehepaaren und sahen aus dem Fenster auf ein aufgewühlt schäumendes Meer, an dessen Strand blauweiß gestreifte Strandkörbe zurückgelassen worden waren wie das Spielzeug einer Rasse von Riesen.
    „Morgen soll die Sonne wieder zum Vorschein kommen“, erklärte Jakob an solchen Tagen hoffnungsvoll, und Marius nickte und setzte ein schmales Lächeln auf.
    Sie hatten sich spontan zu diesem Urlaub entschlossen: eine Auszeit vom Alltag der ewigen Arzttermine, bei denen Marius in zunehmend ratlosere Gesichter blickte, auf Hände, die eilig in Hosentaschen oder hinter dem Rücken versteckt wurden, damit sie sich nicht durch hilflose Gesten verrieten. Ihre Wahl war auf Sylt gefallen, weil der Nordseeinsel ein gesundes Klima nachgesagt wurde und weil sie mittlerweile gewillt waren, auch nach Strohhalmen zu greifen. Ein böiger Wind wehte beinahe unablässig während ihres Aufenthalts und machte das Baden im Meer zu einer Mutprobe, aber er half Marius tatsächlich, etwas freier zu atmen. Zu Hause wurde er immer häufiger von quälenden Hustenanfällen und einer Kurzatmigkeit heimgesucht, die ihn wie einen Langstreckenläufer hinter der Ziellinie zurückließen und deren Ursache auf sein nicht mehr vorhandenes Immunsystem zurückgeführt wurde, eine zusammengebrochene Immunabwehr. Das eine klang, als hätte Marius seine Gesundheit versehentlich irgendwo liegenlassen, wie einen Schirm, den man in der U-Bahn vergisst, oder eine Brille, die man nach dem Lesen gedankenlos absetzt und danach nicht mehr wiederfindet, bei dem anderen sah Jakob ein Auto vor sich, abgestellt am Straßenrand, weil die Batterie verreckt war. Aber auch, wenn sich die notdürftigen Erklärungen fast identisch anhörten, gab es nicht einen Unterschied zwischen „nicht mehr vorhanden“ und „zusammengebrochen“? Beinhaltete Letzteres nicht auch die Möglichkeit von Wiedererstarken?
    Ein Lungenfacharzt schlug eine Bronchoskopie vor, aber Marius lehnte kurzerhand ab.
    „Du hast dich geweigert?“, hatte Jakob gefragt. „Wieso das denn?“
    „Weil keines der Antibiotika, die ich bisher geschluckt habe, auch nur den geringsten Effekt gehabt hat. Darum! Was nützt es mir zu wissen, was ich habe, wenn die Ärzte sowieso nichts dagegen tun können?“ Marius hatte seine Zimmertür hinter sich zugeschlagen, die Diskussion damit abgewürgt, und Jakob einen unterdrückten Fluch ausgestoßen. Die Wahrheit war, dass Marius panische Angst vor einer Bronchoskopie hatte. Vor den Schmerzen, weil die Untersuchung ohne Betäubung durchgeführt werden musste. Vor dem Ergebnis, weil es ein endgültiges sein könnte. Eines, das man nicht verdrängen konnte.
    Bei ihren Überlegungen zu einem geeigneten Urlaubsort hatten sie allerdings nicht darüber nachgedacht, wie beliebt Sylt auch für Familien mit Kindern als Reiseziel war, und sie hatten außer Acht gelassen, dass gerade Hochsaison herrschte. Ohne eine Hotelreservierung gemacht zu haben, fanden sie nur noch in einer kleinen Familienpension ein Zimmer, etwas außerhalb von Westerland, ein zweistöckiges Haus mit spitzen Giebeln und grün gestrichenen Holzbalkonen inmitten der kargen Dünenlandschaft. Die Wirtin, eine abgehärmte Frau mit grauem Dutt und rotgescheuerten Händen, begutachtete sie mit einem misstrauischen Blick und gab

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