Wie Jakob die Zeit verlor
sich an wie der letzte Akt eines Theaterstücks.“
„Was meinst du?“ Er konnte Marius atmen hören; da war ein leichtes Schaben in seiner Lunge, als führe jemand mit einer Hand über Schmirgelpapier.
„Was zu Hause passieren wird.“
„Das ist doch Unsinn. Niemand weiß, was …“
„Du musst mich gehen lassen“, unterbrach ihn Marius. „Wenn es so weit ist, musst du mich gehen lassen.“
Jakob richtete sich auf und suchte den Blick seines Freundes. „Lass das!“, erwiderte er heftig. „Das ist doch krank! Du tust so, als wäre alles vorherbestimmt! Du musst weiter kämpfen! Sie finden bestimmt was, du wirst bestimmt wieder …“
Marius legte ihm die Hand auf den Mund. „Bitte“, wiederholte er. „Wenn es so weit ist …“
Jakob ließ den Kopf hängen und klammerte sich an seinen Freund. Tränen sammelten sich in seinen Augen, wollten geweint und vergossen werden, aber er schluckte sie hinunter. „Wie soll ich das … du verlangst so viel“, brachte er heraus. „Wir wollten doch zusammen alt werden, erinnerst du dich? Hast du das vergessen?“ Marius schwieg und wartete geduldig, bis Jakob sich wieder im Griff hatte. „Also gut“, flüsterte er schließlich. „Ja.“ Weil es nichts anderes gab, was er hätte sagen können. Er konnte nur daliegen und wie betäubt zustimmen, weil Marius auf jeden Fall gehen würde, ob er einverstanden war oder nicht, ob er ihn gehen lassen wollte oder nicht. Und er würde alleine zurückbleiben.
Plötzlich zitterte er am ganzen Körper, und Marius wickelte die Bettdecke fest um sie herum, bis es sich anfühlte, als befänden sie sich im Inneren eines Gespinstes, zart, warm und sicher.
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Arne irrt durch die Straßen der Stadt, ziellos und ohne Plan. Es war wohl doch keine so gute Idee gewesen, einfach draufloszufahren. Er hätte besser daran getan, sich mit Jakob zu besprechen, Informationen abzugleichen, Wahrscheinlichkeiten auszuloten. Vielleicht hätte Jakob etwas über den möglichen Aufenthaltsort von Philip gewusst, was ihm bisher entgangen war, vielleicht hätte er den entscheidenden Hinweis gehabt. Aber es war Jakobs Schuld, dass Philip erneut verschwunden ist, und Arne war verärgert gewesen. Außerdem hatte er das Bedürfnis gehabt, etwas zu unternehmen, nicht nur einfach so dazusitzen, zu warten, geschehen zu lassen. Eine innere Unruhe hatte ihn aus der Wohnung getrieben, ein unbestimmtes Gefühl in der Magengegend, das ihm sagte: Jetzt oder nie.
Die Sonne blendet ihn, und er bedauert, seine Sonnenbrille im Handschuhfach gelassen zu haben, als er den Wagen im Parkhaus abgestellt hat. In den Geschäften der Innenstadt rüsten sich die Einzelhändler und die großen Kaufhäuser für den vormittäglichen Ansturm der Kunden. Türen werden aufgeschlossen, Waren angeliefert, Auslagen zurechtgerückt. Gebremste Geschäftigkeit. Ein Friseur hat bereits geöffnet; durchs Schaufenster sieht Arne eine junge Frau mit Schaum und Silberpapier in den Haaren vor einem Spiegel sitzen. Sie hat Piercings in der Nase und durch die Lippen, trägt dunkles Augen-Make-up. Laute Musik und Gelächter schwappen aus dem Laden nach draußen. Einige wenige Passanten kommen ihm entgegen: ein alter Mann, der mit schleppenden Schritten seinen Hund ausführt. Geschäftsleute in dunklen Jacketts auf dem Weg zu ihrem ersten Termin, die Aktentasche unter den Arm geklemmt, in der rechten Hand einen Becher Kaffee mit dem Logo einer Bäckerei oder eines Kaffeegeschäfts. Immer wieder wählt Arne von unterwegs Philips Nummer, immer wieder springt nur die Mailbox an. Der Junge ist incommunicado .
Er muss ihn einfach finden.
Am Taxistand stauen sich die Fahrzeuge; um diese Tageszeit läuft das Geschäft schleppend. Die Fahrer stehen neben den Autos, rauchen, warten, unterhalten sich gelangweilt. Arne hört ein paar Brocken Türkisch, Arabisch und Deutsch. Im Eingang neben einem Handyladen, der Flatrates beinahe zum Nulltarif verspricht, sitzt ein Obdachloser mit einem aufgedunsenen Gesicht und tabakgelben Zähnen. Vor ihm steht ein Pappteller mit ein paar losen Münzen, neben ihm liegt ein Schäferhund und bewacht einen Einkaufswagen voller Plastiktüten. Wenn Jakob jetzt hier wäre, würde er dem Mann einen Euro schenken. Im Hintergrund hört Arne eine Kirchturmuhr läuten: acht, neun, zehn Schläge, aber als er die Uhrzeit mit seiner Armbanduhr vergleicht, zeigt diese erst kurz nach neun. Was ist denn nun richtig? Entnervt bleibt er stehen und klopft mit dem Finger gegen das
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