Wie Jakob die Zeit verlor
ihnen die Dachkammer, mit schrägen Wänden und getrennten Betten. Sie waren nicht mutig genug, nach einem Doppelbett zu fragen. Morgens, beim Frühstück, tollten Kinder um sie herum, Babys schrien, und einmal baute sich ein kleiner Rotzlöffel im Grundschulalter vor ihnen auf und erkundigte sich nach ihren Frauen.
„Michi!“, wurde er von einer peinlich berührten Mutter zurückgepfiffen. „So was fragt man nicht!“
„Schon gut“, erwiderte Jakob und grinste Marius zu. „Wir haben keine Frauen, Michi. Wir mögen Männer lieber.“ Danach wurden sie beim Frühstück in Ruhe gelassen.
Zeitweise gesellte sich Regen zu dem Wind, peitschte die Wellen auf und verwandelte die Strandpromenade in eine glitschige Rutschbahn; dann war an einen Aufenthalt im Freien ohne Regenmantel nicht zu denken. Ein paar unverdrossene Urlauber wagten sich trotzdem nach draußen. Marius nannte sie spöttelnd „Sturmläufer“, und Jakob konnte sie vom Dachfenster ihres Zimmers beobachten: Wie die gelben Kegel eines Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiels zogen sie mit gebeugten Köpfen ihre Kreise, die Hände schützend auf ihre Kapuzen gelegt, vom Kurhaus zum Strand, ein Stück am Wasser entlang und wieder zurück. Marius und er vertrieben sich diese Stunden mit Lesen oder Musikhören oder mit Sex. Es war kräftesparender für Marius, wenn Jakob sich auf ihn setzte, ihn ritt und den Rhythmus vorgab. Dabei trafen sich ihre Augen, blau und braun verschmolz zu etwas sehr Vertrautem, und sie hielten sich an ihren Blicken fest, bis Jakob stöhnend kam oder Marius‘ Luftnot ihrer Lust eine Grenze setzte.
An einem Tag, an dem der Regen aus einem betonfarbenen Himmel herunterprasselte, drängte Jakob Marius so lange zum Besuch des Hallenbades, bis er widerwillig nachgab. Aber als sie sich umgezogen hatten und in die Schwimmhalle kamen, entdeckte der Bademeister die Flecken auf Marius‘ Körper und verwehrte ihnen den Zutritt. Jakob wollte protestieren, doch Marius zog ihn fort. „Ich will keinen Ärger“, zischte er ihm zu. „Das bringt doch nichts.“
Wenn das Wetter besser war, liefen sie den Strand entlang, immer die Stellen suchend, die vom Wasser hart und nass gespült worden waren. Der feine, trockene Sand dahinter, in den die Badegäste beim ersten Anzeichen von Sonnenstrahlen ihre Schirme pflanzten und auf dem Handtücher und Decken ausgebreitet wurden, ließ Marius schon nach wenigen Augenblicken japsen und keuchen wie einen Asthmakranken. Auch so mussten sie viele Pausen einlegen, warten, bis Marius sich erholt hatte und einen weiteren Abschnitt in Angriff nehmen konnte. Von jedem Strandbesuch brachte Jakob eine Muschel mit zurück, kleine weiße, geriffelte, und dunkle, die von Wasser und Sand glatt geschliffen worden waren und mit Streifen versehen wie die Jahresringe eines Baumes. Jede Muschel war eine Erinnerung, die er anfassen konnte, für später, wenn nichts mehr da war, das sich berühren ließ. Seine Trophäen versteckte er vor Marius in seinem Koffer, aus Angst, er könnte glauben, dass er die Hoffnung aufgegeben hatte.
Oder sie besuchten das Wattenmeer auf der der See abgewandten Seite der Insel. Dort war die Stille mit Händen greifbar, die Schreie der Möwen gellten kilometerweit in der Luft. Kleine Krebse und Würmer bohrten sich in den Schlick zu ihren Füßen. Eine Bank, die den Blick auf das Watt freigab und mit ins Holz geritzten Graffiti übersät war, wurde ihr Lieblingsplatz. Hinter ihnen ging die Sonne unter, versank feuerrot und kitschig im Meer. In diesen Tagen waren sie süchtig nach Kitsch. Sie sogen ihn auf wie den Duft einer besonders intensiv riechenden Rose und wärmten sich an seiner Seichte und Sentimentalität.
„Ich will nicht zurück“, sagte Marius am Abend vor ihrer Heimreise.
Ihre Koffer standen gepackt neben der Zimmertür. Zuvor hatten sie in einem Restaurant ein Drei-Gänge-Menü verspeist, das Jakobs letzte Geldreserven aufgezehrt und von dem Marius die Hälfte stehengelassen hatte, waren ein letztes Mal im Zwielicht der Dämmerung auf die Promenade gelaufen, um das Meer zu sehen, und hatten die allgegenwärtigen Möwen beobachtet, die im Sand nach Nahrung pickten oder sich auf den im Wasser stehenden Pfählen ausruhten. Jetzt lagen sie eng aneinandergekuschelt in Marius‘ Bett.
„Ich auch nicht“, antwortete Jakob.
„Ich könnte hier für den Rest meines …“ Marius brach ab und biss sich auf die Unterlippe.
„Ja“, sagte Jakob leise. „Ich weiß.“
„Es fühlt
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