Wie Jakob die Zeit verlor
wie immer die Ruhe selbst. Ihre Lippen spitzen sich, während sie Jakobs Verhalten beobachtet, sie rückt den Schreibblock auf ihren Knien zurecht.
„Ich habe das Gefühl, auf der Stelle zu treten“, murmelt er und meint damit, dass es ihm noch immer nicht besser geht. Dass Silky Legs nicht geliefert hat, was er sich von ihr versprochen hat: Lebensfreude oder zumindest einen ausgeglichenen Gemütszustand. Oder erwartet er letzten Endes Absolution? Dann wäre er vermutlich besser bei einem Priester aufgehoben. Jakob sieht sich plötzlich im Dunkel eines Beichtstuhls, den schwachen Geruch von Weihrauch und Kerzenruß in der Nase, der sich über die Jahrzehnte in das Holz der Kirchenbänke gefressen hat, mit gesenktem Kopf und raunender Stimme seine Sünden beichtend. Drei Ave Maria und fünf Rosenkränze als Buße und dafür Vergebung von höchster Stelle. Wie einfach die Kirche doch alles macht. Zu schade, dass er nicht religiös ist.
„Auf der Stelle treten? Diesen Eindruck habe ich allerdings nicht“, sagt die Therapeutin. Allein die Tatsache, dass Jakob schon zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit um ein Gespräch außer der Reihe gebeten hat, verrät ihr, dass die Dinge im Fluss sind, dass eine Katharsis in greifbare Nähe gerückt ist. „Was bringt Sie zu dieser Einschätzung?“
Zu ihrer Jeans trägt sie heute einen überlangen grauen Pullunder, den sie in der Taille mit einem breiten schwarzen Gürtel geschmückt hat. Sie sieht plötzlich um Jahre jünger aus. Und hat sie auch etwas mit ihren Haaren gemacht? Jakob riskiert einen prüfenden Blick. Ja, die Haare sind dunkelblond, sie hat sie gefärbt. Er fühlt sich merkwürdig übergangen, als hätte er erwartet, vor der Veränderung ihres Äußeren zu Rate gezogen zu werden. „Herr Brenner?“
Jetzt wäre der Moment gekommen, Silky Legs zu sagen, dass er zu der Ansicht gelangt ist, mit ihr nicht weiterzukommen, dass er genug hat von der andauernden Introspektion, aber sie hat ihm mit ihrer direkten Frage den Wind aus den Segeln genommen. Sein Unmut zerplatzt lautlos wie eine Seifenblase.
„Ich weiß einfach nicht weiter“, sagt er kleinlaut. „Alles geht schief, nichts passt mehr zueinander.“
Die letzte Dreiviertelstunde hat er damit verbracht, Silky Legs über die neuesten Entwicklungen in seinem Privatleben zu unterrichten, hat ihr von Arnes Auftauchen und Philips erneutem Verschwinden erzählt. Marius, der in den letzten Sitzungen fast immer Thema war, ist heute mit keinem Wort erwähnt worden, und Silky Legs weist Jakob auf diesen Unterschied hin.
„Aber er ist immer da“, sagt Jakob. Und meint damit in seinen Gedanken, in seinem Herzen.
„Ja“, erwidert Silky Legs. „Eben.“ Sie sieht auf die Uhr und steht auf: das Zeichen, dass die Zeit für heute schon wieder um ist. „Was Sie brauchen, Herr Brenner, ist eine Art Glaubenssprung.“
„Einen was?“, fragt Jakob.
August 1989
Im Ostblock beschleunigen sich die politischen Veränderungen. In Polen kommt nach den ersten freien Wahlen mit Tadeusz Mazowiecki ein nichtkommunistischer Regierungschef an die Macht. Er gehört der Solidarnosc-Bewegung an.
Die Ständige Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin muss wegen Überfüllung schließen. 131 DDR-Bürger haben dort Zuflucht gesucht und wollen so ihre Ausreise erzwingen. Kurz darauf müssen auch die Botschaften der Bundesrepublik in Budapest und Prag wegen Überfüllung geschlossen werden. 900 DDR-Bürgern gelingt die Massenflucht über die ungarisch-österreichische Grenze.
Unterdessen startet das Parteiorgan der SED Neues Deutschland eine Leserbriefkampagne, in der die DDR-Bürger aufgefordert werden, ihr Land nicht zu verlassen. Und Erich Honecker erklärt bei einem öffentlichen Termin: „Den Sozialismus in seinem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf.“
In den USA werden Studien zu AZT (Retrovir) veröffentlicht, die der Gesundheitsminister der Bush-Regierung, Louis Sullivan, als „Wendepunkt im Kampf gegen Aids“ anpreist. Man sei auf dem Weg von einer tödlichen zu einer heilbaren Krankheit. Am nächsten Tag steigen die Aktien des AZT-herstellenden Pharmariesen BurroughsWellcome um 32 Prozent.
Neben AZT (Retrovir) befinden sich mittlerweile zwei weitere Medikamente in klinischen Studien. DDC und DDI bewirken zusammen mit AZT eine starke Verminderung der Viruslast im Blut von Aids-Patienten.
In einem Spiegel -Interview fordert der Münchner Internist und Aids-Experte Hans Jäger – bisher ein strikter Gegner
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