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Wie Jakob die Zeit verlor

Wie Jakob die Zeit verlor

Titel: Wie Jakob die Zeit verlor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Stressenreuter
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muss es nur eingeschaltet haben, alles andere ist für Arne ein Kinderspiel. Wozu arbeitet er bei einer Computerfirma? Er kennt alle Tricks, die legalen und die nicht legalen und die, die sich in einer rechtlichen Grauzone bewegen. Alles, was er braucht, ist sein Laptop, und der befindet sich im Kofferraum seines Autos.
    Er rennt den Weg zurück zum Parkhaus. Vielleicht ist es noch nicht zu spät, vielleicht hat er Glück. Als er den Wagen erreicht, holt er den Laptop auf den Fahrersitz, fährt ihn hoch und ruft eine Website auf. Ungeduldig gibt er sein Passwort und Philips Handynummer ein und nur wenige Klicks später erscheint Philips Standort als pulsierender roter Punkt auf dem Bildschirm.
    „Ja!“, ruft Arne und beglückwünscht sich selbst. „Ich hab doch gewusst, dass …“, beginnt er und bricht dann enttäuscht ab. Für einen Moment hat er angenommen, dass Jakob neben ihm sitzt, so wie früher. Alte Gewohnheiten sterben langsam.
    Der Junge befindet sich in einer Straße nur wenige Autominuten von Arne entfernt, in der Nähe der Ringe, dort, wo seit Jahren die neue U-Bahn-Trasse nach Süden gebaut wird. Eine Ecke der Stadt, mit der Arne nicht sonderlich vertraut ist. Er gibt den Straßennamen in sein Navigationsgerät ein und lässt sich von der Computerstimme zum Ziel leiten.
    Wenig später steht er etwas verloren im Innenhof einer anonymen Mietskaserne, deren Fensterscheiben sechs Stockwerke in den Himmel ragen. Einige wenige Wohnungen haben Balkonkästen, die mit gelben und violetten Blumen bepflanzt sind, mit zerfranstem Efeu, dessen Luftwurzeln sich hartnäckig in die Hauswand krallen, aber fast alle besitzen Satellitenschüsseln, die ihre Drähte und Antennen ins All recken auf der Suche nach Ablenkung und Zerstreuung und doch nur Realityshows und Doku-Soaps empfangen. Zerrbilder des Alltags, als sähe man in einen gekrümmten Spiegel. Rechts von Arne befinden sich Autogaragen, vor denen zwei Jungen einen Ball gelangweilt hin und her kicken, dahinter ein Unterstand für Müllcontainer, von dem ein säuerlicher Fäulnisgeruch zu ihm herüberweht, wie vergorene Milch.
    Wie soll er Philip hier finden? Die Handyortung kann nur einen ungefähren Standpunkt wiedergeben. Er könnte überall im Umkreis von einhundert Metern sein, zum Beispiel in dem Fahrradladen gegenüber oder in der Bäckerei daneben. Dass er sich in diesem Haus befindet, ist eine reine Vermutung von Arne; auf gut Glück hat er die Klingelschilder abgesucht, obwohl er noch nicht einmal Philips Nachnamen kennt, hat gehofft, dass irgendwo sein Vorname auftaucht, doch so weit kommt ihm das Schicksal nicht entgegen. Entweder er akzeptiert diesen Innenhof als Sackgasse, als Schlusspunkt seiner Suche oder …
    „Philip!“, brüllt Arne. „Philip!“
    Die Jungen unterbrechen ihr Ballspiel und starren ihn entgeistert an, der Fußball springt unbeachtet zur Seite. Arne kommt sich idiotisch vor, wie in einer amateurhaften Aufführung eines Shakespeare’schen Liebesdramas oder Tennessee Williams’ Endstation Sehnsucht. Er ist zu alt für einen jugendlichen Liebhaber, er ist nicht für einen Stanley Kowalski geschaffen, geschweige denn für einen Romeo. Und trotzdem schreit er Häuserwände an, zum zweiten Mal innerhalb weniger Wochen.
    „Philip! Philip!“
    Die Jungen fangen an zu lachen, und Arnes Selbstzweifel wachsen. Im zweiten Stock öffnet sich ein Fenster, und eine dunkelhaarige Frau schaut nach unten, begafft ihn neugierig.
    „Philip!“ Seine Stimme ist jetzt leiser, der Ruf gleicht schon mehr einer Frage, und zu einem weiteren wird Arne wahrscheinlich den Mut nicht mehr aufbringen.
    Plötzlich sieht er jemanden auf sich zukommen, aus dem dunklen, halbrunden Häuserdurchgang zu seiner Linken, der zu einem weiteren Wohnkomplex führt und den er bisher ignoriert hat.
    „Arne!“, sagt Philip. „Was machst du hier?“ Wie immer trägt er eine Jogginghose und Turnschuhe, ein Sweatshirt und seine blaue Strickmütze.
    „Ich habe dich gesucht“, erwidert er und fügt dann erklärend hinzu: „Handyortung.“
    „Geh nach Hause, Mann. Ich kann dich hier nicht brauchen.“ Philip dreht sich um und verschwindet in dem Durchgang, aber Arne lässt sich nicht abwimmeln. Er rennt ihm hinterher und holt ihn ein, als Philip vor einer geöffneten Tür im Torbogen stehenbleibt: der Zugang zu einem Apartment, das früher einmal vielleicht als Hausmeisterwohnung genutzt wurde und unter dessen vergitterten Hoffenstern ein verbeultes Fahrrad

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