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Wie Jakob die Zeit verlor

Wie Jakob die Zeit verlor

Titel: Wie Jakob die Zeit verlor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Stressenreuter
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rausnehmen, weil ich nichts dabeihatte, um sie aufzubewahren. Ich habe gestern nicht mit dir gerechnet.“
    „Nein“, sagte Jakob und streckte sich genüsslich. „Ich auch nicht mit dir.“ Er erinnerte sich an die Freude, die er empfunden hatte, als dieser Mann so unerwartet wieder vor ihm stand, als wäre er urplötzlich dem Boden entsprungen. Fast jeden Tag in den letzten zwei Wochen hatte er an ihn gedacht, hatte sich geärgert, dass er es nicht gewagt hatte, ihn um seine Adresse oder Telefonnummer zu bitten.
    Marius setzte sich aufrecht und tastete nach seiner Unterhose am Fußende des Bettes.
    „Bleibst du zum Frühstück? Oder zumindest auf einen Kaffee?“ Unauffällig hauchte Jakob in seine hohle Hand.
    Marius schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht. Meine Eltern werden sich wundern, wo ich abgeblieben bin.“
    „Du bleibst nicht oft weg, wenn du sie in Köln besuchst?“
    „Nie. Das war das erste Mal.“
    Ihre Augen trafen sich, braun und blau vermischte sich zu etwas Neuem, das vorher noch nicht da gewesen war. Jakob lächelte still in sich hinein.
    Er beobachtete Marius beim Ankleiden: wie er seine Jeans anzog, den abgewetzten Gürtel mit einer energischen, ruckartigen Bewegung schloss, die schwarzen Socken über Zehen und Fußsohlen rollte. Da waren wieder diese kleinen Schweißperlen über seiner Oberlippe, und Marius kühlte sie mit einem ungeduldigen und unbewussten Atemstoß, indem er die Unterlippe vorschob und die Luft nach oben blies.
    Bevor er sein T-Shirt überstreifen konnte, wurde er von Jakob noch einmal zurück aufs Bett gezogen.
    „Gibst du mir deine Telefonnummer?“ Plötzlich war Jakob verunsichert. Was, wenn Marius nein sagte, was, wenn er nach dem zweiten Mal genug hatte? Nervös registrierte er das fast unmerkliche Zögern des anderen, das Abwägen von Möglichkeiten.
    „In Koblenz habe ich kein Telefon. Aber …“ Und wieder dieses leichte Zurückschrecken, dieses Innehalten. „Du kannst die Telefonnummer meiner Eltern haben. Am Wochenende bin ich dort zu erreichen.“ Er kritzelte ein paar Zahlen auf ein Stück Papier von Jakobs Schreibtisch und drückte es ihm in die Hand. „Es ist nur … mein Vater weiß von alldem nichts. Nur meine Mutter. Mein Vater … er ist alt. Meine Mutter auch, aber … er würde es nicht verstehen.“
    „Alt? Was meinst du damit?“
    „Über siebzig. Und meine Mutter ist über sechzig. Ich bin ein Spätankömmling. Einer, mit dem sie nicht gerechnet hatten.“ Ein Anflug von Bedauern huschte über Marius’ Gesicht, und Jakob verstand, dass er die ersten Sätze einer Geschichte gehört hatte, deren Verlauf und Ende er sich erst noch verdienen musste. Deren Schluss vielleicht noch gar nicht geschrieben war.
    „Hast du Geschwister?“
    „Nein. Meine Mutter … sie wäre fast gestorben bei meiner Geburt. Es war zu gefährlich für sie, noch mehr Kinder zu bekommen.“ Marius machte eine Pause. „Ich hätte gerne Geschwister gehabt“, fügte er dann mehr zu sich selbst sprechend hinzu. „Vieles wäre einfacher.“ Dann schüttelte er den Kopf, als könnte er mit dieser Bewegung auch die Gedanken an seine Eltern abstreifen. „Wir wär’s, wenn du mir auch deine Telefonnummer gibst? Ich könnte dich mal unter der Woche aus Koblenz anrufen.“
    „Oh. Ja. Natürlich!“ Jakob sprang auf und schrieb die Nummer auf einen Schmierzettel. „Wir haben hier nur einen Anschluss. Wenn du also zuerst Amir oder Ralf am Apparat hast, darfst du dich nicht wundern. Frag einfach nach mir oder hinterlass eine Nachricht, wenn ich nicht da bin. Ich bin morgens nicht zu Hause, weil ich Uni hab, aber abends eigentlich immer, so ab achtzehn Uhr, außer dienstags, da gehe ich schwimmen, aber spätestens zu ‚Dallas’ um Viertel vor zehn bin ich wieder da, und manchmal bin ich auch donnerstags nicht zu erreichen, weil …“ Verlegen brach ab. „Ich fände es echt toll, wenn du anrufst.“
    Marius lachte und umschloss Jakob in einer letzten Umarmung. „Schon klar. Keine Sorge.“ Er drückte ihm einen harten Kuss auf die Lippen, öffnete mit der Zunge noch einmal seinen Mund, dann riss er sich mit einem Seufzer des Bedauerns los.
    Für den Rest des Tages konnte sich Jakob ein Grinsen kaum verkneifen, und als er am Mittag in einem Seminarraum des Philosophikums saß und einer Vorlesung über „20th Century English Fiction: The Contemporary Novel“ lauschte, malte er gedankenverloren eine lange Namensliste auf die Schreibunterlage.
    Marius
    Marius

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