Wie Jakob die Zeit verlor
Marius
Marius Marius
Arne ist ein ernsthafter Mann, ein Mann, der hart arbeitet und dessen Tag mit Terminen gefüllt ist. Strukturiert und diszipliniert erledigt er seine Aufgaben. Seine Uhren – die im Büro, die im Auto, die Zeitangabe auf dem Laptop, seine Armbanduhr – sind exakt aufeinander abgestimmte Chronometer, alle zeigen genau dieselbe Uhrzeit. Kundengespräche, Telefonate, er bleibt immer ruhig und sachlich, im Gegensatz zu seinen Gesprächspartnern, wie zum Beispiel dem holländischen Kunden vom Nachmittag, der seiner Firma Inkompetenz vorgeworfen und mit rechtlichen Schritten gedroht hat wegen eines Softwarefehlers, der gar nicht auf das Verschulden von Arnes Firma zurückzuführen war. Dafür schätzen ihn seine Vorgesetzten. Für seine Loyalität. Dass er ihnen Ärger vom Hals hält, während sie sich um die Börsennotierung des Unternehmens kümmern und ein Vielfaches von Arnes Gehalt einstreichen.
Arne kann sich bei Geschäftsabschlüssen gewinnbringend in Szene setzen, hat für Arbeitskollegen und Mitarbeiter meist ein freundliches, aber unverbindliches Lächeln parat. Ein Lächeln, das Distanz erzeugt und unaufdringlich darauf hinweist, dass er nicht involviert werden möchte, wenn es um private Angelegenheiten, Büroklatsch oder Intrigen geht. Machtspiele sind ihm zuwider; er glaubt an Kompetenz und Verantwortung.
Früher, wenn seine Arbeitskollegen nach Feierabend ein Bier zusammen tranken, um sich über die Geschäftsstrategien der Firmenleitung in Rage zu reden oder ihre Fantasien über die Mitarbeiterinnen im Callcenter auszutauschen, ist Arne heimgefahren. Doch in letzter Zeit, wenn er abends nach Hause kommt, wird all das, woran er glaubt, auf den Kopf gestellt, durcheinandergewirbelt. In Jakobs und Arnes gemeinsamer Wohnung zeigen alle Uhren eine unterschiedliche Zeit. Die Küchenuhr, der altmodische, aufziehbare, mit vielen kleinen Zahnrädern und römischen Ziffern versehene Wecker am Bett, die Uhr am Herd, die digitale Anzeige auf der HiFi-Anlage: Sie alle differieren in ihren Angaben um mehrere Minuten – es ist, als hätte sich die Zeit in Jakobs Gegenwart entschlossen, nur vage zu vergehen. Arnes Ernsthaftigkeit stößt bei Jakob an ihre Grenzen, mit Struktur und Disziplin ist dem Gefühlschaos ihrer Beziehung nicht beizukommen. Loyalität gegenüber seinem Freund zu empfinden, fällt Arne immer schwerer, weil er das Gefühl hat, eine Randfigur in seinem Leben geworden zu sein.
Der Irrgarten in Jakobs Seele hat sich auf die Wohnung übertragen und Arnes Vorliebe für Ordnung und Klarheit unterminiert. Es war ein schleichender, kaum merklicher Prozess, wie Metall, das sich im Laufe der Zeit abnutzt und irgendwann bricht. Materialermüdung. Jetzt lässt er selber schmutziges Geschirr auf der Spüle stehen, vergisst, die Zahnpastatube zuzuschrauben, oder verlegt Kleidungsstücke. Zu Hause fühlt er sich dem Strudel aus Ungesagtem, Unbewältigtem, Vergangenem, der Jakob umgibt, hilflos ausgeliefert. Er kann sich nicht distanzieren, kann nicht objektiv bewerten. Je häufiger er versucht, rational zu bleiben, desto mehr Streit gibt es zwischen den beiden. Der Strudel zerrt an ihm wie unbändig strömendes Wasser und droht, ihn mit wegzureißen. Immer häufiger flüchtet er daher in Überstunden, verzögert die Fahrt nach Hause. Seine Arbeit ist sein Refugium geworden.
Arne hat sich damals in Jakob verliebt, weil er annahm, Jakob sei ebenfalls ein ernsthafter Mann. Dass Jakob ein Geschäft aus dem Nichts aufgebaut hat, ohne jedwede Vorkenntnisse, nur mit dem Vertrauen auf seine Fähigkeiten, hat ihn beeindruckt. Er liebt den Ausdruck in Jakobs Augen, wenn er seine Hände in frischer, schwer duftender Erde vergräbt, fast zärtlich kleine Setzlinge eintopft. Für ihn besteht kein Zweifel, dass Jakob dann ganz bei sich ist. Er hat geglaubt, die Kompetenz und Leidenschaft für seinen Beruf spiegelten eine private Stärke wider.
Erst viel später, Monate, nachdem sie ihre Beziehung begonnen hatten, hat er entdeckt, dass Jakob in erster Linie ein trauriger Mann ist. Manchmal denkt er, Jakob ist verwundet, hat Verletzungen davongetragen, die nicht mehr heilen werden. Oft fragt er sich, ob es in Jakobs Herzen wenigstens ein kleines Eckchen für ihn gibt oder ob die Erinnerung an Marius so viel Raum einnimmt, dass es niemals einen Platz für ihn gegeben hat. Und niemals einen geben wird.
Jakob sitzt zusammengekauert auf dem Sofa; in seinen Augen glänzen mühevoll zurückgehaltene
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