Wie Jakob die Zeit verlor
nach einer Runde neugierigem Schnuppern fängt er tatsächlich an zu pinkeln und zu scharren. Jakob fällt ein Stein vom Herzen.
„Das klappt ja wie am Schnürchen“, grinst er auf den Kater herunter. Plötzlich hat er gute Laune, eine Welle positiver Energie strömt durch seinen Körper, ein Tatendrang, wie er ihn schon lange nicht mehr verspürt hat. Er schnappt sich seine Schlüssel und läuft nach unten zum Kiosk auf der anderen Straßenseite, wo er zwei Dosen Katzenfutter kauft. Er bemerkt nicht einmal, dass er leise „Venus“ pfeift, während er die Treppen hinunterspringt. Als er zurückkommt, hat es sich Truman auf einem der Sofakissen bequem gemacht und hebt verschlafen den Kopf. Es ist, als ob er schon immer hier gewesen wäre.
Dann steht plötzlich Arne hinter Jakob. Er hat ihn gar nicht hereinkommen hören. Nach dem langen Bürotag riecht er verschwitzt, die Tasche mit seinem Laptop und den Arbeitsunterlagen hält er in seiner rechten Hand. Sommersprossen übersäen sein Gesicht, die rötlichen, krausen Haare verleihen ihm ein jugendliches Aussehen, obwohl er die fünfzig schon überschritten hat. Auch er hat mit den Jahren einen kleinen Bauch bekommen, aber ihm steht das überschüssige Fett gut; immer wenn Jakob ihn betrachtet, muss er an einen gutmütigen, etwas zu groß geratenen Teddybären denken.
„Was ist denn das?“, fragt Arne.
„Ist er nicht niedlich?“ Jakob schenkt ihm zum ersten Mal seit Tagen ein Lächeln. Es fühlt sich ungewohnt an, spannt an seinen Mundwinkeln wie eine trocknende Gesichtscreme. „Er saß in der Dachrinne und scheint niemandem zu gehören.“
Arne runzelt die Stirn, zieht das Jackett seines grauen Anzugs aus. „Du willst ihn also behalten?“
Jakobs gute Laune erstarrt, wankt wie ein Akrobat, der mit einem Bein auf einem Seil balanciert und zu Boden zu fallen droht. „Was spricht dagegen?“
Arne sucht nach einem Grund, aber er findet keinen. Er fühlt sich überfahren; früher haben sie Veränderungen in ihrem Leben gemeinsam besprochen.
„Ich wollte ihn Truman nennen“, sagt Jakob. „Trumi.“
Arne kneift die Augen zu engen Schlitzen zusammen. „Ist das nicht der Name der Katze, die Marius und du hatten? Herrgott, Jakob!“
„Er sieht genauso aus wie der andere Kater“, verteidigt sich Jakob kleinlaut.
„Aber ich bin nicht Marius!“
„Ich dachte nur …“
„Du dachtest was?“
„Dass … dass es ein Zeichen ist.“ Jakobs Stimme ist fast unhörbar.
„Ein Zeichen?“ Arne schüttelt fassungslos den Kopf. „Du hast sie doch nicht mehr alle!“
„Deine Augen sind knallrot!“ Es war das Erste, was Jakob sagte, als Marius munter wurde und ihn ansah. Jakobs Mund war trocken, die Lippen ungewohnt überansprucht nach der vorangegangenen Nacht. Ein Regenschauer im Zwielicht des anbrechenden Tages war einem kühlen, klaren Januarmorgen gewichen; eine bleiche Sonnenscheibe regierte den Himmel und trocknete mühevoll die Pfützen auf der Straße.
Marius blinzelte und rieb sich durchs Gesicht. Am Abend zuvor war er Jakob zum zweiten Mal innerhalb von vierzehn Tagen über den Weg gelaufen. Wegen eines Zahnarzttermins war er einen Tag länger als geplant bei seinen Eltern geblieben, und als er Montagnachmittag aus der Praxis trat, wäre er beinahe mit Jakob zusammengeprallt. Sie hatten den ganzen Abend und die Nacht in Jakobs Zimmer verbracht, hatten Platten gehört, gefickt, geredet und gekuschelt. Bei ihrem ersten Treffen war Marius noch gegen fünf Uhr morgens nach Hause gefahren, diesmal nicht.
Jakob war schon früh aufgewacht, hatte den Tag heraufdämmern sehen, dem entschlossenen Zwitschern einer Amsel auf einem Leitungsmast gelauscht. Während Marius schlief, hatte er kaum gewagt, sich in dem zu schmalen Kastenbett zu bewegen, jetzt schmerzten seine Glieder. Er hatte beobachtet, wie Marius‘ Herz schlug, regelmäßig wie ein Uhrwerk gegen den Brustkorb pochte, wie seine Augen kaum merklich zuckten, während er träumte, hatte ihm sachte einen feinen Tropfen Speichel vom Mundwinkel gewischt. Jakob mochte die unfertigen Stunden der Welt, diese Zeit zwischen Nacht und Tag, in der sich das Leben neu zusammensetzte, alles noch möglich schien. Seufzend war er wieder in einen leichten Schlaf gefallen, in dem sich der Vogelgesang mit dem blubbernden Geräusch der Kaffeemaschine in der Küche vermischte, wo einer seiner Mitbewohner bereits frühstückte.
„Kontaktlinsen“, erwiderte Marius jetzt. „Ich konnte sie heute Nacht ja nicht
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