Wie Jakob die Zeit verlor
Tränen. Arne streckt seine Hand aus, will ihm über den Kopf streichen. Es ist ein Friedensangebot, aber Jakob zuckt zurück, und Arne lässt den Arm frustriert sinken. Schon lange kann Jakob keine Nähe mehr ertragen, selbst kleinere Zärtlichkeiten scheinen ihm zuwider zu sein. Er ist unantastbar geworden, unerreichbar.
Nur die Katze scheint die Spannung im Raum nicht zu bemerken. Unbekümmert erkundet sie ihr neues Zuhause, schnuppert in den Ecken und spielt mit der Schnur der Jalousien am Fenster.
„Ich dachte, du kommst später?“ Jakobs Worte lassen Arne zusammenfahren. „Hattest du nicht gesagt, dass es im Büro Probleme gibt?“
„Wir haben für morgen ein Gespräch vereinbart. Ist vielleicht doch nicht so schlimm, wie ich dachte. Außerdem musste ich meinen Wagen zur Inspektion bringen.“
„Das Hühnchen hab ich jetzt eingefroren.“ Anstatt sich zu freuen, dass Arne pünktlich zu Hause ist, scheint Jakob verärgert zu sein.
„Dann holen wir was vom Chinesen oder vom Italiener. Ist doch egal. Wir essen das Hähnchen morgen“, erwidert Arne besänftigend. „Was hältst du von einem ruhigen Abend vorm Fernseher? Ich könnte uns eine DVD ausleihen. Wir lungern auf dem Sofa herum, schaufeln Pizza in uns hinein und setzen Kalorien an!“ Seine Stimme heuchelt Fröhlichkeit, er will keinen Streit.
Jakob beobachtet den Kater, der mittlerweile in der Ecke eine Büroklammer entdeckt hat und sie mit den Pfoten über den glatten Parkettboden schiebt. „Ich darf ihn wirklich nicht Trumi nennen?“
Arne schließt enttäuscht die Augen. Einen Moment lang schwankt er, ist versucht, nachzugeben. Was bedeutet schon ein Name? Es würde ihn nicht viel kosten. Nur seinen Stolz, seinen Glauben an ihre Zukunft. „Können wir uns nicht auf einen Kompromiss einigen? Es gibt noch so viele amerikanische Präsidenten zur Auswahl. Kennedy, Lincoln, Obama, Bush …“
„Kein Kater in diesem Haushalt wird den Namen Bush tragen!“, unterbricht ihn Jakob empört. Für einen Augenblick zuckt ein Lächeln über seine Mundwinkel, und Arne fühlt sich merkwürdig ermutigt. Als hätte er ein scheues, wildes Tier aus der Deckung gelockt.
„Johnson?“
„Vietnamkrieg“, hält Jakob dagegen.
„Nixon?“
„Watergate.“
„Reagan?“
„Iran-Contra-Affäre. Außerdem war er homophob. Und ich konnte Nancy nicht ausstehen.“
Bald fallen Arne keine Präsidenten mehr ein. „Clinton?“, fragt er schließlich.
„Bill Clinton?“ Jakob zögert und nickt dann sein Einverständnis. „Clinton geht.“ Er hebt den Kater vom Boden auf und krault ihm den Nacken. „Aber dann müssen wir dich schnell kastrieren lassen“, seufzt er.
Arne grinst und greift zum Telefon, um ein Chicken-Kokos-Curry und gebratene Nudeln zu bestellen. Eine Welle der Erleichterung schwappt über ihm zusammen, er hat weiche Knie und muss sich an der Wand abstützen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Die Auseinandersetzungen mit Jakob kosten Kraft, das mühsame Ringen um einen Kompromiss, um Gemeinsamkeiten, frisst seine Energie. In solchen Momenten bezweifelt er, der Stärkere in ihrer Beziehung zu sein, und verdächtigt Jakob, auf eine perverse Art und Weise Lust an ihren Streitigkeiten zu empfinden.
Jakob und er haben sich durch Zufall kennengelernt, nicht übers Internet, nicht in einer Kneipe, nicht beim Outdoorcruising. Sogar heute denkt Arne noch gerne daran zurück, trotz allem. Es ist eine seiner besten Erinnerungen. Damals gab es noch keine schwulen Chatportale, und man traf sich noch im realen Leben auf Parkplätzen, Partys oder in Kneipen. Und obwohl Arne beruflich mit Computern zu tun hat und sie prinzipiell als Segen für die Menschheit betrachtet, kann er nicht nachvollziehen, wieso viele schwule Männer es heutzutage bevorzugen, ihr Sexdate wie einen Pizzaservice nach Hause zu ordern. In einem seltenen Moment von Zweisamkeit waren sich Jakob und er einig, dass ihnen dabei der Augenkontakt fehlen würde, das Kribbeln im Bauch, die Spannung, ob man dem anderen gefällt, ob man in sein Beuteraster passt. Sie waren sich auch einig, dass sie zu einer aussterbenden Spezies gehören. Schwule Dinosaurier, deren Knochen bald in Museumsvitrinen zu bestaunen sein werden, schmeichelhaft ausgeleuchtet, auf rotem oder dunkelblauem Samt drapiert, neben sorgsam beschrifteten Kärtchen.
Nach einem unangenehmen Artikel in der lokalen Presse, der die sterile und kalte Arbeitsatmosphäre in Arnes Betrieb anprangerte, hatte die Chefetage
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