Wie Jakob die Zeit verlor
Nackenhaare strich.
„Du meinst beim Test?“ Jakob dachte an die Zeit, die er im Wartezimmer verbracht hatte, bis er aufgerufen wurde. „Ich hab mir fast in die Hose geschissen. Ich konnte die letzten Wochen an nichts anderes mehr denken.“
„Nein, ich meine … vor Aids. Vor diesem Virus.“
Sie hatten noch niemals darüber gesprochen, hatten verdrängt, was sich weigerte, von alleine zu gehen. Wie kann man vom Tod sprechen, wenn man verliebt ist? Wie kann man vom Sterben reden, wenn man sich wie neu geboren fühlt?
Und doch war das Thema immer präsent; schon drei Jahre zuvor, 1983, hatte Jakob einen ersten Artikel im Spiegel über die „Schwulenpest“ gelesen, die Horrormeldungen über die „Homo-Seuche“, erst ungläubig, dann ablehnend und dann Stück für Stück vor der Wahrheit zurückweichend. Gerüchte flogen umher wie die Sporen von Pusteblumen, angeheizt von sensationslüsternen Medien, die die anfängliche Unsicherheit über die Übertragungswege ausschlachteten. Ein Mückenstich, ein Händedruck, die gemeinsame Benutzung einer Toilette, alles wurde in Frage gestellt. Doch auch das Wissen unter schwulen Männern war nicht größer: Man sollte nicht mit Farbigen ficken, dann besser nicht mit Amerikanern. Beim Arschlecken war es besser, eine Frischhaltefolie zwischen Zunge und Schließmuskel zu legen. Die Gerüchte wehten vorüber, das Virus blieb.
Wie ein ungebetener Gast begann es in den Diskotheken mitzutanzen; wie ein Gespenst versteckte es sich am Aachener Weiher hinter den Bäumen, wenn Jakob in den warmen Sommernächten auf Männerfang ging; wie ein Nebel mischte es sich unter die heiße, feuchte Luft in den Dampfsaunen. Gerade beim Sex war das Wissen um seine Existenz immer präsent, es vergiftete die Atmosphäre und tötete zunehmend die Lust: in den verklemmten Gesprächen, wenn man zu verhandeln suchte, was ging und was nicht; beim abrupten Abbruch einer unüberlegten Begegnung, wenn einen in letzter Sekunde das Gewissen packte und man den Kontakt mit Körperflüssigkeiten vermeiden wollte. Vor allem jedoch zeigte es sich in der Angst danach. Wenn man sich hatte hinreißen lassen und allein zu Hause saß, wenn man einen Fehler begangen hatte und krank vor Sorge jede Hautveränderung beobachtete. Wenn man jeden Schnupfen und jede Bronchitis hinterfragte und für den Anfang vom Ende hielt.
Jakob hatte Marius nichts davon erzählt: Erst vor einigen Wochen hatte er jemanden in einer Kneipe gesehen, eine Fickbekanntschaft aus der Zeit vor Marius. Eine Zeitlang hatte er sich gewundert, warum Achim trotz des warmen Wetters einen Pullover trug, doch dann war der Ärmel verrutscht und Jakob hatte die verräterischen, rot-braunen Flecken auf seinem Unterarm gesehen, die der bösartige Hautkrebs wuchern ließ. Kaposi-Sarkom. Ein Synonym für den Tod, kalt und unbarmherzig wie die Gewissheit des Sterbens selbst. Er hatte Achims Verzweiflung bemerkt, hatte in einen bodenlosen Brunnen aus Angst geblickt, als sich ihre Augen trafen, und er war aus der Kneipe gestürzt und hatte sich am Bordstein übergeben. Am nächsten Tag hatte er einen Termin beim Arzt vereinbart.
„Ja“, erwiderte Jakob leise. „Ich habe eine Heidenangst vor diesem Virus. Es erschreckt mich zu Tode.“
„Mich auch“, sagte Marius. Er seufzte bedrückt. „Ich will, dass es verschwindet. Ich will, dass alles wieder so ist wie früher.“
„Glaubst du, wir sollten Gummis benutzen?“
„Hast du es schon versucht?“
Jakob dachte an die paar vermurksten Gelegenheiten, bei denen er versucht hatte, sich ein Gummi überzustreifen, an die Peinlichkeit, als sein Schwanz schlaff wurde. Er dachte daran, dass er früher nie auch nur auf die Idee gekommen wäre, Gummis mit schwulem Sex in Verbindung zu bringen. Gummis benutzte man zur Empfängnisverhütung, so hatte er das gelernt. So etwas brauchten nur Heteros. „Es war Scheiße.“
„Bei mir auch. Ich kann das nicht. Es macht keinen Spaß.“
„Und was machen wir jetzt?“
Marius hob ratlos die Schultern.
Jakob drehte sich im Schein der Kerze zu ihm. „Dieses Virus wird uns nichts anhaben, hörst du? In ein paar Jahren haben sie bestimmt was dagegen gefunden. Es wird uns nichts tun!“
Marius nickte, obwohl sie beide wussten, dass es eine Lüge war.
Es ist seltsam. Jetzt, wo er nicht mehr in seiner Nähe ist, muss Arne ständig an Jakob denken. Zum Beispiel daran, dass er nahe am Wasser gebaut hat. Man kann eigentlich nicht mit ihm ins Kino gehen, ohne sich zu
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