Wie Jakob die Zeit verlor
oder weniger.“
Die Therapeutin zieht die Augenbrauen zusammen, während ihr Stift über das Papier hastet. „Sie haben mir in der Vergangenheit erzählt, dass Sie beide keinen besonderen Wert auf partnerschaftliche Treue legen. Hat sich das in Ihrem Fall jetzt geändert?“
„Na ja, wenn er mich wegen eines anderen Mannes verlässt, dann wohl schon!“
„Könnte es andere Gründe geben, die Arne zu seinem Entschluss bewogen haben?“
„Woher soll ich das wissen?“, erwidert er. „Sie sind die Therapeutin. Sagen Sie es mir!“
„Dann lassen Sie mich die Frage anders formulieren: Können Sie sich andere Gründe vorstellen?“
„Fragen Sie doch Arne!“, fährt Jakob auf. „Vielleicht hat er für Sie bessere Antworten als für mich!“
Silky Legs lässt sich von Jakobs Aggressivität nicht aus der Ruhe bringen. „Ich bin Ihre Therapeutin und nicht die Ihres Partners. Ihres Ex-Partners.“
Jakob zuckt zusammen, als sie sich verbessert. „Vielleicht ist er ja gar nicht richtig weg“, murmelt er. „Vielleicht kommt er ja wieder.“
Der Kugelschreiber schreitet erneut zur Tat. „Glauben Sie, dass er wiederkommt?“ Wenn Silky Legs wüsste, dass Jakob inzwischen das Essen mit Rolf und Uli per SMS abgesagt hat, dann würde sie erkennen, dass er selbst nicht an das glaubt, was er sagt. „Wollen Sie, dass er wiederkommt?“
„Natürlich will ich, dass er wiederkommt! Was ist denn das für eine Frage! Wir sind seit fast acht Jahren zusammen!“
„Und das bedeutet?“
„Nichts“, murmelt Jakob. „Anscheinend bedeutet es nichts.“
Irgendetwas läuft falsch in dieser Sitzung. Er hatte sich ein wenig Mitgefühl erwartet, ein paar Worte des Bedauerns und Erklärungen, stattdessen konfrontiert ihn die Therapeutin mit unbequemen Fragen. Vielleicht ist sie die falsche Anlaufstelle. Jakob vergräbt das Gesicht in seinen Händen. „Ich kann das nicht mehr“, flüstert er.
„Interessant. Ist Ihnen aufgefallen, dass Sie die gleichen Worte wie Ihr Ex-Partner benutzen? Jedenfalls haben Sie es vorhin so dargestellt.“
Er schweigt. Silky Legs hat recht. Das war ihm gar nicht bewusst. „Und was heißt das?“, fragt er schließlich.
„Könnte es nicht sein, dass Sie beide sehr genau wissen, was Sie daran hindert, eine funktionierende Beziehung zu führen?“
„Ich … Marius?“ Der Name kommt ziemlich kleinlaut und mit einem Fragezeichen versehen aus Jakobs Mund.
Silky Legs klappt ihren Notizblock zu und sagt: „Wir sehen uns nächste Woche, Herr Brenner.“
September 1986
Auf ihrem Wahlparteitag in Nürnberg beschließen die Grünen ein Programm zum ökologischen und sozialen Umbau der Industriegesellschaft, das u.a. eine Umstellung der Industrieproduktion zugunsten von Umweltschutz vorsieht.
Der neue Erzbischof von Wien, Hans Hermann Groer, erhält im Stephansdom die Bischofsweihe. Er steigt später zum Kardinal auf und muss Mitte der neunziger Jahre nach einem aufsehenerregenden Skandal um Kindesmissbrauch zurücktreten.
Die Kölner Philharmonie, die als modernster Konzertsaal der Welt gilt, wird eröffnet. Der Konzertsaal hat 2000 Plätze und ist wie ein modernes Amphitheater angelegt. In der Philharmonie musizieren vorwiegend das Rundfunk-Sinfonie-Orchester des WDR und das Gürzenich-Orchester.
Erste Ergebnisse von klinischen Studien in den USA deuten darauf hin, dass ein in den sechziger Jahren eigentlich zur Krebsbekämpfung entwickeltes Medikament namens AZT den Ausbruch und Verlauf von Aids verlangsamen könnte.
Über 12.000 US-Amerikaner haben sich bisher über Blutspenden mit dem HI-Virus infiziert, aber erst seit dem Sommer werden in den USA mehr und mehr Blutspenden und -konserven auf HIV-Antikörper getestet, obwohl ein entsprechender Test schon seit 1985 zur Verfügung steht. Ähnliche Blutspende-Skandale gibt es in den achtziger Jahren auf der ganzen Welt. Der deutsche wird erst 1993 in einem Untersuchungsausschuss aufgeklärt.
Derweil wird die gesellschaftliche Situation für Schwule und Lesben in den USA immer schwieriger. Während die Infektionszahlen weiterhin sprunghaft ansteigen und die Reagan-Administration aus weltanschaulichen Gründen nur zögerlich finanzielle Mittel bereitstellt, um die Krise zu bekämpfen, hat das oberste Verfassungsgericht der USA im Juni 1986 im Fall Bowers vs. Hardwick entschieden, dass einvernehmliche homosexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen auch in den eigenen vier Wänden als illegal geahndet werden können. Diese Entscheidung wird
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