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Wie Jakob die Zeit verlor

Wie Jakob die Zeit verlor

Titel: Wie Jakob die Zeit verlor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Stressenreuter
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blamieren. Jakob hat geheult, als Sigourney Weaver in Avatar gestorben ist, und als sich Ron und Hermine im letzten Harry-Potter-Film endlich küssten, hat er mehrere Taschentücher gebraucht. Manchmal ist er sogar bei Tatort -Episoden zu Tränen gerührt. Passiert irgendwo auf der Welt eine Katastrophe, kann man darauf wetten, dass Jakob vor dem Bildschirm hockt und mitleidet. Tsunami im Pazifik, Massenmord in Oslo, Erdbeben auf Haiti – er kann die feuchten Augen nicht von der Mattscheibe lösen.
    Oder dass er die nervige Angewohnheit hat, seine Gläser und Tassen niemals auszutrinken, immer einen Fingerbreit des Getränks übrig lässt. Warum auch immer. Jeden Abend vor dem Schlafengehen läuft Arne durch die Wohnung und versucht dem Chaos Einhalt zu gebieten, das sich in ihrem Zuhause wie ein wuchernder Pilz ausbreitet. Er sammelt Jakobs Gläser und Tassen ein, die er den Tag über gedankenverloren in den Räumen verteilt hat, und schüttet die Reste abgestandenen Orangensafts, kalten Kaffees und schalen Wassers in den Ausguss.
    Arne sieht aus dem verschmierten Fenster des Zuges auf die vorbeirasende Landschaft. Blühende Rapsfelder, ein paar Kühe, in der Ferne ein Dorf. Aus den Kaminen der Häuser steigt Rauch auf und kräuselt sich am Himmel. Dann fährt der ICE in einen Tunnel, im Abteil wird es dunkel und mit einigen Sekunden Verzögerung flackert das Licht an. Arnes Finger wärmen sich an dem Pappbecher mit Tee, den er sich im Bistrowagen gekauft hat. Inzwischen bezweifelt er, dass es eine gute Idee war, nach München zu fahren. Doch in der Nacht, als er aus der Wohnung gestürmt ist, den Bauch voller Wut und den Kopf völlig leer, hat er sich an eine Bushaltestelle gesetzt und seine Optionen ausgelotet. Analytisch denken, das kann er. Nur dass ihm diese Fähigkeit bei Jakob nicht weiterhilft. Da sind zu viele Emotionen im Spiel, er hat keinen Abstand, kann nicht objektiv urteilen. Jakob ist jemand, der außerhalb jeder Analyse steht. Dessen Charakter sich einer kühlen und abgeklärten Betrachtung entzieht. Stattdessen hat Arne in der aufkommenden Dämmerung eine Horde Spatzen beobachtet, die sich um ein paar Brotkrümel am Boden balgten, hat den Männern von der Straßenreinigung zugesehen, die um fünf Uhr ihren Dienst begannen.
    Er braucht jemanden, der ihm erklärt, warum Jakob so ist, wie er ist. Selbst wenn er Jakob niemals wiedersehen sollte – und er bekommt einen Kloß im Hals bei der bloßen Vorstellung –, muss er wissen, dass ihn, Arne, keine Schuld trifft. Dass er sein Bestes gegeben hat. Aber hat er das? Hat er seine Leidensfähigkeit tatsächlich ausgereizt? Als er an diesem Punkt seiner Überlegungen angekommen war, hatte nicht viel gefehlt und er wäre zurückgelaufen, wäre die Treppen zu ihrer Wohnung hochgestürmt und hätte Jakob in seine Arme geschlossen. Denn der Mann, mit dem er die letzten Jahre sein Leben geteilt hat, fehlt ihm schon jetzt. Er fühlt sich, als hätte er ein Loch in der Brust. Einzig sein Stolz hat ihn davon abgehalten, die Ereignisse der letzten Nacht ungeschehen zu machen. Das und die Gewissheit, dass er so nicht weiterleben kann.
    Jakob hat nicht viele Freunde aus der Zeit mit Marius in sein jetziges Leben hinübergerettet. Fast alle sind gestorben, sind dem Siegeszug des Virus zum Opfer gefallen. Einmal, zu Beginn ihrer Beziehung, hat er ein Fotoalbum hervorgeholt, auf die Gesichter gezeigt und ihnen einen Namen und eine Todesart zugeordnet. Andreas: Lungenentzündung. Klaus: Enzephalopathie. Jürgen: Kaposi-Sarkom. Sascha: Selbstmord, nachdem er sein positives Testergebnis erhalten hat. Martin: Erblindung durch eine CMV-Infektion und Wasting-Syndrom. Jede Seite des Fotoalbums zeigte ein neues Schlachtfeld, einen weiteren Kriegsschauplatz, auf dem es keine Überlebenden gab. Jedes Bild bewahrte die Erinnerungen an ein Massensterben. Arne war entsetzt, als er begriff, wie viele es waren, und er fragte sich, wieso die Katastrophe in seinem Leben so wenig Spuren hinterlassen hatte. Kaum einer seiner Freunde war infiziert, geschweige denn an Aids gestorben. Hatte er in den achtziger und neunziger Jahren auf einer Insel der Glückseligen gelebt, die auf wundersame Weise von der Epidemie verschont geblieben war? Oder hat er einfach nur die Augen geschlossen, um nicht zu sehen, was allgegenwärtig war?
    Während er durch Jakobs Fotos blätterte, glaubte er manchmal ein Gesicht zu erkennen, jemand, den er vielleicht irgendwo gesehen hatte in einer Diskothek, in

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