Wie Jakob die Zeit verlor
erst 2003 höchstrichterlich als verfassungswidrig verworfen.
Die deutschen und englischen Charts werden von Bands dominiert, die kein Problem haben, die Homosexualität einzelner Bandmitglieder öffentlich zu machen. In Deutschland sind Frankie Goes to Hollywood mit „Rage Hard“ in der Spitzengruppe; in England führen die Communards mit „Don’t Leave Me This Way“ die Charts an.
Marius riss einen Grashalm aus der Erde und pulte Essensreste zwischen seinen Zähnen heraus. Sein Kopf lag auf Jakobs Brust, eine träge Zufriedenheit umgarnte ihn. Um sie herum summten Bienen; ein paar Meter von ihnen entfernt veranstaltete eine türkische Familie ein Grillfest am Rheinufer. Der Duft von gebratenem Hammelfleisch und exotischen Gewürzen vermischte sich mit den gutturalen, unverständlichen Stimmen der Männer, dem vergnügten Schwatzen der Frauen.
„So lass ich mir die Semesterferien gefallen“, murmelte Marius und sah einem Lastkahn nach, der in der Mitte des Flusses an ihnen vorbeifuhr. „Sommer, Sonne und ein geiler Mann an meiner Seite. Wusste gar nicht, dass du so gut kochen kannst.“
Jakob legte das Buch zur Seite, das er gegen das Licht gehalten hatte. „War doch nur Kartoffelsalat und ein paar Frikadellen.“
„Trotzdem. Wenn ich könnte, würde ich dich heiraten. Ehrlich. Du ziehst das Brautkleid an.“
Jakob schnaubte auf. „Niemals. Du wirst mich nie im Fummel sehen. Ich versteh überhaupt nicht, was Schwule so toll daran finden, sich als Transen zu verkleiden. Außerdem sind wir doch schon so gut wie verheiratet.“
Er schob sich noch ein paar Gabeln Kartoffelsalat in den Mund, obwohl er nicht mehr hungrig war. Er hatte zu viel gemacht; eigentlich hatte Sascha sie begleiten wollen, Jakobs neuer Kumpel, den er vor einigen Wochen an der Theke einer Kneipe kennengelernt und mit dem er sich auf Anhieb gut verstanden hatte. Sascha war witzig und hatte einen beißenden, schwarzen Humor, und Jakob mochte seine unkomplizierte Art. Auch Marius, dem er Sascha kurz darauf vorgestellt hatte, verstand sich gut mit ihm. Wie eigenartig, dass es Jakob plötzlich leichter fiel, Freundschaften zu schließen und Bekanntschaften zu machen, seit er mit Marius zusammen war. Als ob ein Bann gebrochen worden wäre, eine Hemmschwelle sich in Luft aufgelöst hätte. Doch heute Morgen waren Sascha Zahnschmerzen dazwischengekommen, und so waren Marius und Jakob mit ihren Rädern allein zum Sonnenbaden gefahren.
Marius setzte sich auf und spähte in das Dickicht hinter ihnen. Das Cranachwäldchen an der Rheinschleife im Kölner Norden mit seinen ausgetretenen Pfaden war ein bekannter Treffpunkt. Schon seit einiger Zeit hörten sie verdächtige Geräusche in den Büschen, immer wieder spazierten leicht bekleidete Männer an ihnen vorbei, warfen ihnen neugierige und neidische Blicke zu. Glück machte sexy.
„Bock auf einen Dreier?“, fragte Marius.
Jakob deutete auf das Buch neben ihm. „Ich muss das hier lesen. In vier Wochen fängt das Wintersemester an und ich hab noch nicht mal die Hälfte der Pflichtlektüre für meine Kurse durchgearbeitet.“ Er grinste. „Wir hatten erst vorhin Sex. Wieso bist du schon wieder rattig?“
„Ich kann immer, weißt du doch.“
„Dann geh schon und lass mich lesen.“
Treue war zwischen ihnen von Anfang an kein Thema gewesen. „Machen wir uns nichts vor“, hatte Marius eines Abends gesagt, vielleicht sechs Wochen, nachdem sie sich kennengelernt hatten. „Wir haben uns in einem Darkroom getroffen. Ich studiere in Koblenz, du in Köln, und wir können uns außerhalb der Ferien nur am Wochenende sehen. Es wird passieren, früher oder später. Und ich habe keine Lust, es heimlich zu tun.“ Sie waren hungrig gewesen: Ein Pizzakarton lag auf dem Tisch und Marius lutschte zufrieden seine fettigen Finger ab. Nur die Kruste war übrig geblieben, er aß den Rand nie mit.
„Es ist schon passiert“, hatte Jakob erwidert und war rot geworden. „Ich bin neulich an der Uniklappe vorbeigekommen und konnte nicht widerstehen.“
Marius hatte angefangen zu lachen. „Und ich war mit dem Auto am Deutschen Eck“, hatte er zugegeben. Dann war er wieder ernst geworden. „Aber das hat nichts zu bedeuten, verstehst du?“ Er nahm das Gesicht seines Freundes in beide Hände und blickte ihn durchdringend an. Jakob konnte kleine Flecken erkennen, die wie Silber in seinen Pupillen schwammen. „Es ist nur Sex.“
„Es ist nur Sex“, hatte Jakob genickt.
Jetzt sah er Marius hinterher,
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