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Wie Jakob die Zeit verlor

Wie Jakob die Zeit verlor

Titel: Wie Jakob die Zeit verlor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Stressenreuter
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der mit schlendernden Schritten im Gebüsch verschwand, und biss sich auf die Lippen. Es gab etwas, das er mit ihm besprechen musste, aber er hatte keine Ahnung, wie er anfangen sollte. Jedes Mal, wenn er einen Anlauf nahm, schreckte er in letzter Sekunde zurück, wie ein Hürdenläufer, der das erste Hindernis auf der Bahn verweigerte.
    Er versuchte, sich auf seinen Text zu konzentrieren, aber die Buchstaben ergaben keinen Sinn, immer wieder las er denselben Absatz. Was hatte die politische Geschichte der amerikanischen Union in den Jahren nach dem Bürgerkrieg mit ihm zu tun? Tote Protagonisten, die sich über längst vergessene Probleme stritten. Das „Gilded Age“ war eine Epoche des ungebremsten Kapitalismus während der industriellen Revolution gewesen, die meisten Politiker käuflich, bestechlich, unfähig, und nur an Macht, Geld und Einfluss interessiert. Hier wurde der Grundstock für den Reichtum der Vanderbilts und Rockefellers gelegt, während das Gros der Bevölkerung immer tiefer in Armut versank.
    Jakob grinste müde und legte das Buch zur Seite. Ronald Reagan hätte an dieser Periode seine helle Freude gehabt. Wieso war Geschichte dazu verdammt, sich zu wiederholen?
    Ein paar Wolken verdeckten die Sonne, und er fröstelte, kramte sein T-Shirt aus der Tasche, die sie mitgebracht hatten.
    „Nur alte Säcke“, befand Marius enttäuscht, als er nach wenigen Minuten zurückkehrte. „Keiner unter vierzig. Und so hässlich! Wie kann man nur in Badehose und braunen Halbschuhen cruisen gehen?“
    Jakob nahm seinen ganzen Mut zusammen. „Ich war beim Arzt“, platzte er heraus und musste sich zusammenreißen, damit seine Mundwinkel nicht zitterten. „Schon vor drei Wochen.“
    Marius hielt inne. Die Zeit stand plötzlich still, alles um sie herum schien zu erstarren. „Beim Arzt? Warum?“ Als ob er es nicht wüsste, als ob Jakobs Tonfall nicht schon alles gesagt hätte.
    „Ich hab einen Test machen lassen.“ Jakobs Herz schlug wie wild, er konnte es sogar in seinem Hals spüren, und er sah, dass Marius die Luft anhielt, sich hektische rote Flecken auf seinen Wangen zeigten, wie immer, wenn er aufgeregt war. „Gestern habe ich das Ergebnis bekommen.“ Er brachte ein unsicheres Lächeln zustande. „Es ist negativ.“
    „Gott sei Dank.“ Marius ließ sich aufatmend neben ihn ins Gras fallen. Ihre Finger berührten sich, verhakten sich ineinander, hielten Zwiesprache, bis die Fingerkuppen weiß wurden. „Warum hast du mir nichts gesagt?“
    Jakob zuckte mit den Schultern. „Ich wusste nicht, wie du reagierst.“ Dann fügte er leise hinzu: „Ich glaube, ich hatte Angst, dass du mich im Stich lässt.“ Es kostete ihn noch mehr Mut, sich dies einzugestehen.
    „Blödmann.“ Marius sah ihn kopfschüttelnd an. „Kennst du mich so schlecht? Wegen so etwas würde ich nicht gehen.“
    „Tut mir leid.“
    „Und warum? Ich meine, warum hast du dich testen lassen?“ Ohne Jakob zu fragen, begann er, ihre Sachen wegzupacken: die Badetücher, seinen Walkman mit der Kassette des neuen Pet-Shop-Boys-Albums, die Sonnencreme, die Sporthosen; es war, als hätte Jakob mit seinem Geständnis einen magischen Tag jäh beendet.
    „Es hätte doch sein können, dass ich es habe. Würdest du es nicht wissen wollen?“
    „Nein“, stieß Marius hervor, seine Stimme klang wie ein Bellen, rau, heiser. Jakob zuckte überrascht zusammen. Schweigend stiegen sie auf ihre Räder und fuhren zu Jakobs Zimmer zurück. Für den Rest des Tages war Marius seltsam still.
    Obwohl Samstag war, machte am Abend keiner von beiden den Vorschlag auszugehen. Stattdessen zündete Jakob eine Kerze an, als es dunkel wurde, und sie erkundeten ihre Körper langsam und vorsichtig, als wäre es das erste Mal, dass sie einander in Jakobs Kastenbett entdeckten. Aus einem geöffneten Fenster in der Nachbarschaft wehte klassische Musik zu ihnen herüber, ein Stück von Debussy, und die Melodie verschmolz mit den Berührungen ihrer Hände, ihrer Lippen. Als er kam, rief Marius Jakobs Namen. Er klang verloren, wie ein Kind, wie ein Liebender, der verlassen worden war, und seine Finger gruben sich in den Rücken seines Freundes.
    „Ich bin hier“, flüsterte Jakob. „Ich bin hier.“
    „Hast du Angst?“, brach Marius später endlich sein Schweigen. Seine Stimme war belegt, als hätte sich etwas in seiner Kehle verfangen. Er hatte sich an Jakob gekuschelt, und Jakob konnte seinen Atem spüren, wie ein sanfter, warmer Wüstenwind, der über seine

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