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Wie Jakob die Zeit verlor

Wie Jakob die Zeit verlor

Titel: Wie Jakob die Zeit verlor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Stressenreuter
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einer Bar, aber dann war er wieder unsicher, vielleicht bildete er sich das nur ein, weil Jakob den Namen und Gesichtern wieder Leben einhauchte, ihnen eine Geschichte zuordnete: Andreas war Friseur gewesen und brüstete sich damit, eine Nacht mit Elton John verbracht zu haben, auch wenn ihm das niemand glaubte. Klaus war mit sechzehn Jahren von zu Hause ausgerissen, hatte sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten, bis ihn sein zwanzig Jahre älterer Freund Helmut von der Straße holte. Jürgen hatte bei Karstadt gearbeitet und heimlich Gedichte geschrieben. Mit Sascha hatte Jakob seinen ersten Joint geraucht und völlig breit einen Dreier gemacht. Martin hatte darunter gelitten, dass er so klein war, und war jedes Mal explodiert, wenn ihn jemand im Spaß mit „Na, du Zwerg?“ ansprach. Ausdruckslos sprach Jakob von den Toten, abgestumpft leierte er ihre Geschichte herunter wie der nüchterne Chronist eines historischen Ereignisses. Als hätte er sein Herz gegenüber ihrem Schicksal verschlossen. Nur wenn ein Bild von Marius in seine Finger geriet, wurde er sprachlos, versagten ihm die Worte, und seine Zunge leckte hilflos über die trockenen Lippen. Und wieso waren es so wenige Bilder von Marius? Drei, vier, in denen er eher zufällig auf das Foto geraten schien, während Jakob andere Menschen abgebildet hatte. Hatte er wirklich nur die wenigen Erinnerungen an Marius behalten?
    Arne kennt nur einen Menschen, der ihm erzählen kann, was damals passiert ist. Der einzige Mensch, den Jakob sein halbes Leben kennt, abgesehen von seiner Familie. Deshalb hat Arne schließlich im Büro angerufen, hat sich ein paar Tage freigenommen und kurz entschlossen in den ersten Zug nach München gesetzt.
    Als er gegen Mittag am Hauptbahnhof ankommt, wechselt er in die Regionalbahn und dann in einen Bus, den er sich mit ein paar Jugendlichen und einigen Hausfrauen teilt, bis er am frühen Nachmittag in einem Dorf ankommt, das so klein ist, dass sein Name nicht einmal die detaillierteste Landkarte interessiert. Ein Tante-Emma-Laden, ein Bäcker und ein Schreibwarenladen mit Postfiliale bilden die gesamte Infrastruktur des Örtchens. In der Mitte steht eine Kirche aus dem achtzehnten Jahrhundert, eingerahmt von vier großen Ahornbäumen, die den Platz vor dem Gotteshaus beschatten. Ein Schaukasten informiert über die Veranstaltungen der katholischen Gemeinde: Seniorenkaffeetrinken am Mittwochnachmittag, Rosenkranzbeten am Freitagmorgen, am 30. eine Messe zu Ehren des heiligen Quirinius. Arne fragt sich mit einem Zettel in der Hand durch, bis er etwas abseits des Dorfes zu einer weißgetünchten Bauernkate mit schwarzem Fachwerk gelangt, vor deren Eingang ein Topf Margeriten blüht. Die Adresse hat Arne in seinem Laptop gespeichert; Jakob hat sie ihm vor Jahren gegeben, als er Katrin zum ersten Mal, nachdem er Arne kennengelernt hatte, in Bayern besuchte. Für den Notfall, hat er damals gesagt. Und Arne sieht die jetzige Situation als Notfall an.
    Ein Fliegengitter klappert im Rahmen der geöffneten Haustür, und auf dem Weg daneben parkt ein roter Fiat Panda. Eine langhaarige, blonde Frau etwa in seinem Alter kommt ihm entgegen, als er klopft. Sie ist schlank, trägt Jeans und ein schlabbriges T-Shirt. In ihrer Hand hält sie einen Stapel DIN-A4-Blätter, die sie mit Rotstift markiert hat. „Sie sind nicht der Klempner“, stellt sie unnötigerweise fest, als sie Arnes Reisetasche sieht.
    „Nein“, gesteht Arne. „Ich bin …“
    „Mist. Der Mensch ist schon drei Stunden überfällig. Können Sie einen Abfluss reparieren? Mein Mann ist auf einer Konferenz in Budapest, und wenn ich mir heute nicht die Haare waschen kann, sehe ich bald aus wie eine Vogelscheuche.“
    „Ich … ich kann es versuchen“, sagt Arne unsicher.
    „Und wer sind Sie in Wahrheit? Ich meine, haben Sie auch einen Namen? Moment …“, sagt sie plötzlich und sieht ihn genauer an. „Kann es sein, dass du Jakobs Freund bist? Er hat mir Fotos von dir gezeigt.“
    Er nickt. „Ich bin Arne. Und Sie sind … und du bist Katrin?“
    Die Frau sieht an ihm vorbei, als ob sie noch jemanden erwartete. „Wo ist Jakob? Er hat mir gar nicht erzählt, dass er in der Gegend ist.“
    „Das ist eine längere Geschichte“, erwidert Arne. „Jakob ist zu Hause. Ich bin alleine gekommen.“
    „Ich verstehe kein Wort“, sagt Katrin. „Was willst du dann hier?“
    „Ich will etwas über Marius wissen. Über Marius und Jakob.“
    „Von mir?“
    Arne schaut auf

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