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Wie Jakob die Zeit verlor

Wie Jakob die Zeit verlor

Titel: Wie Jakob die Zeit verlor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Stressenreuter
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sozialliberalen Koalition vor.
    Mehr als 200 Menschen kommen ums Leben, als die britische Autofähre „Herald of Free Enterprise“ beim Auslaufen aus dem belgischen Hafen Zeebrügge kentert.
    Auf einer Sonderkonferenz in Bonn werden von den Gesundheitsministern in Bund und Ländern neue Maßnahmen gegen die Ausbreitung von Aids beschlossen. Dazu gehören ein zentrales Aids-Register und eine anonyme Berichtspflicht der Institute, die beim Bluttest eine Infektion feststellen.
    Kurz zuvor hat die bayerische Staatsregierung im Alleingang einen „Maßnahmenkatalog zur Abwehr von AIDS“ verabschiedet, der unter anderem die Möglichkeit vorsieht, „Ansteckungsverdächtige“ zum HIV-Test vorzuladen, ebenso die namentliche Registrierung von Infizierten, die Internierung von Kranken in besonderen Einrichtungen und Tätigkeitsverbote. Darkrooms und Saunen werden geschlossen. Die Präventionsarbeit der freien Träger droht daraufhin zusammenzubrechen, HIV-Infizierte verlassen Bayern aus Angst vor Denunziation und Repressalien. Erste Anti-Gauweiler-Demonstrationen finden in München statt.
    Der neue bayerische Kultusminister Johann Zehetmair (CSU) sieht Aids als „Symptom einer maroden Gesellschaft“ an. Er lokalisiert Homosexualität im „Randbereich der Entartung“. Sie sei „naturwidrig“ und im Grunde „krankhaft“.
    In den USA gründet sich Act Up (Aids Coalition to Unleash Power), eine Organisation von Aids-Aktivisten, die mit Demonstrationen, gezielten Störmaßnahmen, Boykottierungen und zivilem Ungehorsam auf die unzureichenden Maßnahmen der Reagan-Regierung in Bezug auf Aids aufmerksam machen will. Bis zu diesem Zeitpunkt hat der Präsident zu diesem Thema kein einziges Mal öffentlich Stellung genommen. Zwar fließt inzwischen Geld in die Forschung, aber es kommt den Betroffenen nicht zugute.
    Derweil wird der Streit um die Entdeckung des HI-Virus zwischen dem Amerikaner Gallo und dem Franzosen Montagnier auf höchster politischer Ebene beigelegt: Präsident Reagan und Präsident Chirac einigen sich darauf, entsprechende Patente zu gleichen Teilen auf die beiden Wissenschaftler und die sie unterstützenden Teams aufzuteilen.
    Vor dem Obersten Bundesgericht in den USA wird über den Fall der Gay Games verhandelt. Die Veranstalter des weltweit größten schwul-lesbischen Sportevents waren verklagt worden, weil sie sich ursprünglich Gay Olympics nennen wollten. Im Juni entscheidet das Gericht, dass nur die Olympischen Spiele als Olympiade bezeichnet werden dürfen, und sieht sich dem Vorwurf der Homophobie ausgesetzt.
    In einer Folge der „Lindenstraße“ küssen sich erstmals im deutschen Fernsehen zwei schwule Männer.
    In Deutschland führen Pierre Cosso & Bonnie Bianco mit „Stay“ die Charts an; in Großbritannien ist es Boy George mit „Everything I Own“.
    Der schmale, neonbeleuchtete Gang roch nach Desinfektionsmittel und Kaffee und sah nach Improvisation aus – als wären die verantwortlichen Stellen auch im vierten Jahr der Epidemie noch nicht ausreichend auf sie vorbereitet. Eine Krankenschwester schob ratternd einen Essenswagen an ihnen vorbei, bestückt mit Tabletts, die die Frühstücksreste der stationär aufgenommenen Patienten trugen. Ein alter Mann in Bademantel und Pantoffeln schlurfte hinterher, in Richtung Schwesternzimmer. Im Hintergrund konnte man die Türen des Fahrstuhls hören. Jemand hatte ein paar nichtssagende Drucke von Gräsern an die weißen Wände gehängt, um deren Trostlosigkeit abzumildern, und war kläglich gescheitert.
    Der Gang war bestückt mit einem Dutzend Stühle, auf denen Marius und Jakob zwischen den anderen Patienten Platz genommen hatten, den Blick auf die anonyme weiße Tür gerichtet, hinter der sich die HIV-Ambulanz verbarg. Ein paar Gesichter waren ihnen vertraut, einige Männer waren ihnen im „Pimpernel“ oder der „Römerstube“ schon mal über den Weg gelaufen. Man registrierte sich mit einem knappen Nicken oder einem peinlich berührten Wegsehen. Der also auch. Und der und der. Ein Schaulaufen der Aussätzigen. Es fühlte sich erniedrigend an. Jakob hatte ein Buch mitgebracht, um die Wartezeit zu überbrücken – Pride and Prejudice, das er für ein Jane-Austen-Seminar durcharbeiten musste –, aber es lag zugeklappt auf seinem Schoß. Marius starrte zu Boden, alle Muskeln angespannt wie ein Boxer, der in der Ecke des Ringes sitzt und jeden Augenblick zur nächsten Runde gerufen wird.
    Es war ihr zweiter Besuch im Uniklinikum; nach dem

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