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Wie Jakob die Zeit verlor

Wie Jakob die Zeit verlor

Titel: Wie Jakob die Zeit verlor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Stressenreuter
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Reden von Gesundheitspolitikern angehört. Er erinnert sich noch genau an Peter Gauweiler und die Gefahr einer Stigmatisierung von HIV-Infizierten; er weiß sehr gut, wie viel er und all die anderen Rita Süssmuth zu verdanken haben. Auch die Übertragungswege des Virus kennt er und was man dagegen tun kann. Und trotzdem: Jakob ist müde. Mag sein, dass es heute Therapien gibt, die den Verlauf der Infektion eindämmen. Mag sein, dass man – zumindest in den westlichen Industrienationen – mit Aids alt werden kann. Mag sein, dass es von einer lebensbedrohlichen zu einer chronischen Infektion geworden ist. Aber eines hat sich nicht geändert: Wie Marius vor mehr als zwanzig Jahren will Jakob einfach nur, dass das Virus verschwindet. Dass alles so wird wie früher.
    Als sie im Bett liegen und ihre verschwitzten Körper langsam wieder zu Atem kommen, nestelt Philip seinen Kopf in Jakobs Armbeuge. „Hammer!“, seufzt er zufrieden. Seine Hand streicht über Jakobs Oberschenkel und Jakob denkt darüber nach, dass ihm Philips Berührungen nicht unangenehm sind, nicht so wie die von Arne. Was bedeutet das? Warum kann er sich in Philips Umarmungen fallen lassen, und warum zuckt er zurück, wenn Arne ihn anfasst? Weil er und Philip keine Geschichte haben? Weil sie nur in diesem Moment existieren, auf diesem Bett? Weil ihre Begegnung wie ein zufälliger Schnappschuss ist, an dessen Entstehung man sich später nicht mehr erinnert?
    „Erzähl mir von dir“, sagt er.
    „Kein Bock.“
    „Los, mach schon.“
    „Na schön. Was willst du wissen?“ Philips Stimme klingt schläfrig. Er dreht sich auf den Bauch und Jakob hat die Möglichkeit, die geflügelte Schlange zu bewundern, die großflächig auf Philips Rücken tätowiert worden ist. Ihr langer, geschuppter Leib windet sich an Philips Wirbelsäule entlang, der Oberkörper ist bedrohlich aufgerichtet, die filigranen, libellenartigen Flügel spannen sich bis auf seine Schulterblätter. Das weit aufgerissene Maul der Schlange ist mit zwei langen Giftzähnen versehen, die im Begriff zu sein scheinen, zuzuschlagen. Aber irgendetwas stimmt mit den lidlosen, starren Augen nicht. Jakob beugt sich über Philips Rücken und fährt im Schein der auf dem Nachttisch flackernden Kerze mit dem Finger über beinahe kreisrundes, rotvernarbtes Gewebe unterhalb der linken Schulter. Die beiden Narben sind ungefähr so groß wie ein Ein-Cent-Stück.
    „Zum Beispiel, wer das gemacht hat“, sagt er.
    Philip dreht sich so, dass Jakob die Schlange nicht mehr sehen kann. „Geht dich nichts an, Mann.“ Seine Gesichtszüge sind hart und abweisend.
    „Wer?“, insistiert Jakob.
    „Mein letzter Stiefvater“, antwortet Philip schließlich und betont das letzte Wort mit einer Mischung aus Bitterkeit und Verachtung. „Meine Alte hatte einen Stecher nach dem anderen, ich sollte immer so tun, als ob sie meine Stiefväter wären. Manche waren okay, manche nicht. Der letzte hat mich nicht gemocht und ich ihn nicht. Er hat mich verprügelt. Als er anfing, seine Kippen auf mir auszudrücken, bin ich abgehauen.“
    „Hast du ihn angezeigt? Das ist Körperverletzung!“
    „Meine Alte hat mich angebettelt, es nicht zu tun.“
    „Aber …“ Jakob fehlen die Worte.
    „Die Schlange hab ich mir machen lassen, sobald die Wunden verheilt waren. Vom ersten Geld, das ich mir verdient hab.“
    „Als Stricher.“
    „Als Escort, du Arsch!“ Philip setzt sich auf und sieht Jakob wütend an. „Ich entscheide, mit wem ich es treibe und mit wem nicht. Und falls du es nicht bemerkt hast, mit dir hab ich es schon zum zweiten Mal für lau gemacht!“
    „Nein, so war das doch gar nicht …“
    „Ach, Scheiße!“, flucht Philip und springt auf. „Ich hab keinen Bock mehr auf dich, Opi.“ Er sucht seine Klamotten zusammen und zieht sich in Windeseile an. „Ich hab das hier nicht nötig. Such dir doch jemand anderen.“ Er schlüpft in seine Sneakers, und eine Minute später knallt die Wohnungstür hinter ihm zu. Jakob hört, wie sich seine Schritte im Hausflur verlieren.
    März 1987
    Willy Brandt erklärt seinen Rücktritt als SPD-Vorsitzender, nachdem sein Vorschlag, die parteilose griechische Journalistin Margarita Mathiopoulos zur neuen Parteisprecherin zu machen, auf heftige innerparteiliche Kritik gestoßen ist und eine Diskussion über seinen Führungsstil ausgelöst hat. Damit endet eine Ära: Brandt war seit 1964 Vorsitzender der SPD, von 1969 bis 1974 war er auch Bundeskanzler und stand der ersten

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