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Wie Jakob die Zeit verlor

Wie Jakob die Zeit verlor

Titel: Wie Jakob die Zeit verlor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Stressenreuter
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Bett, die Arme weit ausgebreitet, und ruft mit einem breiten Grinsen fordernd: „Kuscheln! Kuscheln!“. Die Szene hat etwas Unschuldiges, Kindliches, und ich fühle mich gleichzeitig angezogen – weil er mich will – und abgestoßen – weil er sich so gar nicht männlich verhält, so gar nicht dem Bild entspricht, das ich von ihm habe: stark, kraftvoll, unabhängig.
    Schon wieder was mit Regen, und weil unser Kater die Hauptrolle spielt, kann ich die Szene auf 1988 oder später datieren.
    Trumi hatte immer die Angewohnheit, über die geöffneten Dachfenster unserer Wohnung auszubüxen und stundenlang die Dächer der anderen Häuser zu inspizieren. Wir haben dabei jedes Mal Höllenängste ausgestanden, dass er versehentlich in einer fremden Wohnung landen oder in einen Kamin fallen könnte.
    An dem Nachmittag zog urplötzlich ein Gewitter auf, während Trumi noch draußen war. Marius ist auf den Balkon gegangen und hat ihn gerufen und dabei mit einer Schachtel Trockenfutter gerappelt. Als dann die ersten dicken Tropfen fielen, kam Trumi in einem Affenzahn vom Dachfirst über das schräge Dach geschossen, aber das Wasser hatte die Dachziegeln glitschig gemacht, und die Katze verlor ihren Halt und schlidderte über das Dachende hinweg. Nur mit den Vorderpfoten konnte sie sich gerade noch an der Regenrinne festhalten. Unter ihr ging es fünf Stockwerke in die Tiefe. Marius hat die Schachtel mit dem Trockenfutter fallenlassen und sich so weit wie möglich über die Balkonbrüstung gelehnt, aber er konnte Trumi nicht erreichen. In seiner Verzweiflung hat er Trumi wie einem Kind zugeredet und ihn mehr oder weniger angefeuert, nicht aufzugeben, nicht loszulassen. Und tatsächlich hat sich Truman hochziehen und in die Regenrinne retten können. Dabei hat er Marius nicht einen Moment lang aus den Augen gelassen. Kurz darauf hat er pitschnass und zitternd in Marius’ Armen gehockt. Ich habe keine Erinnerung daran, was ich getan habe. Bin ich einfach nur im Hintergrund geblieben und habe alles beobachtet?
    Die Pose des objektiven Betrachters, des nüchternen Berichterstatters, lässt sich nur kurz aufrechterhalten. Gerade diese letzte Erinnerung macht Jakob ein weiteres Mal deutlich, was er verloren hat. Seine Augen glänzen feucht und er muss innehalten, um sich zu sammeln. Was bezweckt Silky Legs mit dieser albernen Übung? Dass er sich noch mieser fühlt? Für einen Augenblick ist der Gedanke, das ganze Geschreibsel einfach zu zerreißen und in den Mülleimer zu werfen, ein verführerischer. Aber er kann nicht. Je länger er am Schreibtisch sitzt, desto mehr Erinnerungen an Marius fallen ihm ein. Dinge, an die er seit Jahren nicht gedacht hat. Dinge, von denen er glaubte, sie vergessen zu haben. Es ist, als hätte er einen Wasserhahn aufgedreht und besäße jetzt nicht mehr die Kraft, ihn zu schließen. Der Druck der Wassermassen, die aus dem Hahn schleudern, ist einfach zu groß.
    Sex. Ich glaube, wir haben alles ausprobiert, was es gibt. Golden Shower, SM, Rollenspiele, völlig egal. Marius war genauso experimentierfreudig wie ich.
    Wir waren nachts zusammen am Aachener Weiher, es war warm, aber stockdunkel, also irgendwann im Hochsommer. Im Gras haben die Grillen gezirpt wie verrückt, und hundert Meter entfernt haben die Heteros auf der Wiese Lagerfeuer gemacht und Bier getrunken.
    Marius und ich sind getrennt auf Männersuche gegangen. In dem Wäldchen gab es richtige Trampelpfade, die beliebtesten Stellen konnte man an den gebrauchten Tempos und Parisern erkennen. Zu der Zeit war der Aachener Weiher als Cruising-Gelände so beliebt, dass man am Wochenende manchmal Schwierigkeiten hatte, einen freien Baum zu finden, unter dessen Schutz man es treiben konnte.
    Ich hatte mit einem Typen was angefangen und war gerade mittendrin, als ich aus den Augenwinkeln mitbekommen habe, dass uns Marius aus einiger Entfernung beobachtete. Zuerst dachte ich, er ist eifersüchtig und macht mir gleich eine Szene, aber dann habe ich gemerkt, dass er sich daran aufgegeilt hat, wie ich von dem anderen Kerl gefickt werde. Das wiederum hat mich auch geil gemacht. Als der andere abgespritzt hatte, hat Marius mich am Kragen gepackt und ins nächste Gebüsch gezerrt, mit den Worten: „Und jetzt mach ich dich fertig, du Sau!“ Mann, das war … heute ist am Weiher gar nichts mehr los, glaube ich.
    Eine Szene ganz zu Anfang unserer Beziehung. Ich wohnte noch in der WG in Deutz und Marius und ich kannten uns erst ein paar Wochen. Wir haben

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