Wie Jakob die Zeit verlor
auf dem hässlichen braunen Sofa gehockt, das in der Möblierung des Zimmers enthalten war und bei dem man immer die Sprungfedern unter dem Hintern gespürt hat. Ich erinnere mich an die Stimmen von Ralf und Amir, die aus der Küche gedämpft zu uns drangen. Marius und ich haben uns die „Schwarzwaldklinik“ angesehen. Ich hatte einen uralten, kleinen Schwarz-Weiß-Fernseher mit einer Zimmerantenne. Ich habe meinen Kopf an Marius’ Schultern gelegt und bin eingeschlafen …
Jakob zögert. Die letzte Erinnerung ist fehlerhaft, trügerisch. Zumindest unvollständig. Er könnte sie so stehen lassen; durch die Verschriftlichung erhielte sie einen zusätzlichen Wahrheitsanspruch. Die Therapeutin würde die kleine Lüge nicht bemerken. Doch es geht nicht. Selbst, wenn es nur eine winzige, kaum ins Gewicht fallende Verdrehung der Tatsachen ist: Gerade, weil er sie zu Papier bringt, gerade, weil er seine Erinnerungen an Marius in Buchstaben und Wörter gießt, fühlt sich Jakob verpflichtet, sie korrekt darzustellen. Die Vorstellung, beim Schreiben eine bessere Kontrolle ausüben, einen Filter benutzen zu können, der ihn in einem positiven Licht erscheinen lässt, war genau das: nur eine Vorstellung, eine Illusion. Er streicht den letzten Satz und ersetzt ihn durch die Wahrheit.
… Ich habe meinen Kopf an Marius’ Schultern gelegt und so getan, als wäre ich eingeschlafen, habe tiefe und regelmäßige Atemzüge vorgetäuscht. Marius hat den Betrug nicht bemerkt, er hat geglaubt, ich wäre wirklich vor lauter Müdigkeit eingeschlummert. Ich habe gespürt, wie er sich vorsichtig bewegt, um mich nicht aufzuwecken, habe seine Hand auf meiner Schulter gespürt, und dann habe ich gehört, dass er geflüstert hat: „Wie süß!“ Es war wie ein Sieg. Ab diesem Moment war ich mir seiner sicher.
Mein sechsundzwanzigster Geburtstag, also Ende 1987. Wir hatten schon mit der Sanierung unserer zukünftigen Wohnung begonnen, aber ich wohnte noch im Belgischen Viertel. Die Stimmung war schon die ganze Woche angespannt, Marius und ich waren beide ziemlich k.o. Er hatte die Nacht nicht bei mir, sondern bei seinen Eltern verbracht, was mich zusätzlich verärgerte. Ich wollte nicht allein aufwachen am Morgen meines Geburtstags. Am Vormittag kam Marius mit sechsundzwanzig roten Rosen im Arm zu mir, doch anstatt mich darüber zu freuen, fand ich die Geste zu theatralisch, zu tuntig. Ich hatte Probleme damit, als Mann Blumen geschenkt zu bekommen.
Am Abend war meine Laune noch immer nicht besser geworden, trotzdem hatte ich mir vorgenommen, etwas Besonderes zu kochen – auch wenn ich damals noch keinen blassen Schimmer vom Kochen hatte, abgesehen von Kartoffelsalat, den konnte ich schon immer. Ausgerechnet eine andalusische Fischsuppe wollte ich machen, was natürlich total in die Hose ging. Die Suppe war versalzen, der Fisch noch halb roh, und ich habe schließlich alles ins Klo geschüttet. Danach hatte ich eine Stinklaune, die ich so lange an Marius ausgelassen habe, bis er anfing zu heulen und mir vorwarf, dass ich alles kaputt mache. Erst da bin ich zu mir gekommen und habe mich entschuldigt.
Wir hatten Besuch, ich habe unsere Küche und unser Wohnzimmer mit den Dachbalken vor Augen. Kurz nach unserem Einzug im Frühjahr 1988; alles roch noch neu. Sascha war da, natürlich, mein bester Freund, und Klaus und Helmut. Wir haben zusammen gekocht, na ja, ich hab mich eigentlich mehr um die Getränke gekümmert. Ich erinnere mich, dass Marius am Morgen einen allerersten rötlich-braunen Fleck auf seiner Haut entdeckt hatte. Wir wussten genau, was es ist.
„Die Pest“, hat er geflüstert. „Ich habe die Pest“, und hat mit zitternden Fingern über den Fleck gestrichen. Ich sehe noch immer den ungläubigen Schock in seinem Gesicht. Und noch immer schäme ich mich meines völlig unzureichenden Mitgefühls, denn anstatt ihn zu trösten, war ich genervt, weil er sich erst kurz vorher von einer schweren Erkältung erholt hatte. Zu dem Zeitpunkt hatte er andauernd irgendwas, und ich wollte einfach mal entspannen und nichts wissen von Kranksein, Infektionen und dem ganzen Zeug.
„Lass dir nichts anmerken“, habe ich befohlen. „Wir kriegen Besuch.“
Er hat mich groß angesehen und genickt.
Es lief schon eine Weile nicht mehr so gut zwischen uns. Ich glaube, ich fühlte mich eingeengt und irgendwie ausgeliefert, als ob der Rest meiner Zukunft schon festgeschrieben wäre. Und Marius wurde immer abhängiger von mir, hat geklammert,
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