Wie Jakob die Zeit verlor
Kugelschreiber und ein Blatt Papier vor ihm, ebenfalls leer, weiß und unbeschrieben, und Jakob muss einsehen, dass sein eigenes Zögern, sein eigener Widerwille der Grund ist, warum sich die Seite nicht mit Worten füllt.
Vielleicht kann er Silky Legs beim nächsten Termin einfach sagen, dass er noch keine Zeit gehabt hat, ihrer Aufforderung Folge zu leisten? Oder er könnte eine Erkältung vortäuschen, die ihn zu Bettruhe und Nichtstun gezwungen hat. Aber die Therapeutin würde seine Ausrede durchschauen, ihn vor sich selbst bloßstellen, ihn mit Stille und Schweigen bekämpfen, bis er anfinge zu reden. Besser, selbst die Kontrolle zu haben, seine Gedanken zu lektorieren, zu zensieren, wenn nötig. Also schreiben.
Brüsk hascht er nach einer Erinnerung an Marius und zwingt sie mit ungelenken Fingern auf Papier. Doch als er den ersten vollständigen Satz liest, zuckt er erschrocken zurück. Gerade noch sind die Worte wie durchs Licht angezogene Nachtfalter in seinem Kopf herumgeschwirrt, lebendig und zart, doch nachdem er sie eingefangen hat, kommen sie ihm vor wie die aufgespießten Insektenleichen in einem Schaukasten, starr, reglos, nur noch ein Schatten ihrer selbst.
Er zerknüllt das Blatt Papier und bemüht sich, seinen Unwillen zu vergessen, wirft einen Blick auf die Fotos zu seinen Füßen, atmet tief ein und beginnt erneut. Diesmal gelingt es ihm besser; die Worte, die er jetzt niederschreibt, sind wie Fische in einem Aquarium – manche bunt, manche unscheinbar, aber immerhin sind sie alle lebendig.
Es ist eine Postkartenidylle, fast kitschig schön: Ein rot getünchter Abendhimmel, die Sonne geht im Westen hinter ein paar Schleierwolken unter, fett und rund wie eine Apfelsine. Wir sind in Florenz, im Spätsommer 1987, auf einem ziemlich abschüssigen Campingplatz etwas außerhalb der Stadt, kurz vor dem Ende unseres Italienurlaubs. Marius hat unser schmales 2-Mann-Zelt aufgebaut – ich glaube, es war blau –, während ich auf dem kleinen Gaskocher Nudeln mit Tomatensoße fürs Abendessen gemacht habe. Die Nudeln waren total pampig, und ich war wütend auf mich selber. Marius hat kein Wort darüber verloren und hat sie kommentarlos gegessen, und das hat mich nur noch mehr verärgert.
Gegen zehn Uhr, als es langsam dunkel wurde und wir schlafen gehen wollten, begann plötzlich laute Musik zu spielen (also wirklich richtig laut, dass einem die Ohren abfielen). Erst da haben wir gemerkt, dass wir in der Nähe eines Stadions oder eines alten Amphitheaters campierten. Madonna war gerade mit ihrer „Who‘s that Girl“-Tour in Italien, und wir konnten das ganze Konzert mithören, von „True Blue“ über „Like a Virgin“ bis „Papa Don’t Preach“. Die Italiener waren ganz verrückt nach Madonna damals, weil sie italienische Wurzeln hat. Als sie „Live to Tell“ gesungen hat, eins von ihren wenigen langsamen Stücken, hat Marius angefangen zu schluchzen. Ich habe so getan, als hätte ich nichts bemerkt, weil ich unsere Tränen nicht mehr ertragen konnte.
Mitten in der Nacht hat es dann wie aus Eimern geschüttet, der erste Regen in der Toskana seit mehr als einem Monat. Unser Zelt am Abhang ist von den Wassermassen weggerissen worden, alle Klamotten waren total durchnässt. Ich hatte kein einziges Paar trockene Schuhe am nächsten Morgen und musste auf feuchten Espandrillos durch die Medici-Kapellen laufen. Überall auf dem kostbaren Marmorboden waren meine Fußabdrücke zu sehen.
Ungefähr zur selben Zeit, vielleicht ein paar Monate früher, auf jeden Fall, bevor Marius und ich zusammengezogen sind: Ich habe noch in dem kleinen 1-Zimmer-Apartment im Belgischen Viertel gewohnt. Anstatt meine Vorlesung am Freitagnachmittag zu besuchen, habe ich auf der Uniklappe jemanden abgeschleppt und mit zu mir nach Hause genommen. Christoph, so einen kleinen, drahtigen Blondschopf, ein Jurastudent, den Marius und ich aus der Szene kannten und auf den ich schon lange scharf war. An den Sex kann ich mich nur noch vage erinnern, wohl aber an das, was danach passiert ist. Als wir fertig waren, ist Christoph unter die Dusche gesprungen. Ich wollte gerade das Bett aufräumen, als die Wohnungstür aufging und Marius im Flur stand. (Er hatte einen Schlüssel von der Wohnung.) Ich glaube, mir sind alle Gesichtszüge entglitten, weil ich erst am Abend mit ihm gerechnet hatte. Marius hat sofort gecheckt, dass etwas nicht stimmte, und dann hat er das Wasser im Bad rauschen hören. Er hat die Badezimmertür
Weitere Kostenlose Bücher