Wie Jakob die Zeit verlor
reißt er das Marmeladenglas vom Tisch, in dem Marius seine Stifte aufbewahrt, sie regnen auf den Boden, und der Kater, überrascht von der Kettenreaktion, die er ausgelöst hat, nimmt fauchend Reißaus und flüchtet mit angelegten Ohren unter das Sofa im Wohnzimmer. Marius und Jakob sehen sich an und fangen an zu lachen.
„Es ist schon wieder passiert“, sagt Jakob. Er liegt auf der Couch in Silky Legs’ Praxis, und seine Hände wischen unruhig über seine Oberschenkel. „Ich habe diesen Mann auf der Straße gesehen. Er kam in Begleitung einer Frau aus einem Schuhgeschäft. Dabei habe ich ihn nur von hinten gesehen. Aber er hatte den gleichen wiegenden Gang wie Marius, ungefähr die gleiche Größe, dieselbe Haarfarbe und denselben Haarschnitt.“
„Und dieser Anblick hat bei Ihnen die Erinnerung an Ihren Freund ausgelöst?“ Die Therapeutin sitzt in einem angemessenen Abstand hinter seinem Kopf, wie immer mit Notizblock und Stift bewaffnet.
„Es geschieht immer schlagartig, wie ein Überfall. Ich bin nie darauf vorbereitet.“ Jakob seufzt unglücklich.
„Es ist doch eigentlich ein schönes Bild. Die Frühlingssonne, die Ruhe, das Familienleben ... es strahlt Glück aus. Was stört Sie daran?“
Jakob schweigt.
„Herr Brenner?“
Aber Jakob will nicht zugeben, dass die Erinnerung eine trügerische ist. Er will nicht zugeben, dass es die letzte unbeschwerte Erinnerung an seine Beziehung mit Marius ist. Dass er am Abend jenes Tages Stefan kennengelernt hat.
„Ich würde Ihnen für unsere nächste Sitzung gerne eine Hausaufgabe mit auf den Weg geben“, sagt Silky Legs.
„Bin ich in der Schule oder was?“, braust er auf.
Die Therapeutin ignoriert seinen Protest. „Schreiben Sie die Erinnerungen an Marius auf. All die Bilder, die Ihnen im Kopf herumspuken. Setzen Sie sich hin und bringen Sie sie zu Papier. Die guten und die schlechten Erinnerungen.“
„In der richtigen Reihenfolge?“ Jakob glaubt, sie erwarte eine Chronologie der Ereignisse, und er bezweifelt, dass er nach so vielen Jahren das jeweils passende Datum zuordnen kann.
„Das ist völlig egal. Es geht um die Erinnerungen an sich. Es geht ums Aufschreiben.“
„Und wozu soll das nütze sein?“
„Tun Sie es einfach.“ Silky Legs klappt ihr Notizbuch zu, und Jakob weiß, dass die Sitzung für heute beendet ist.
Während die Therapeutin sofort den Raum verlässt, rappelt er sich mühsam von der Couch hoch und fährt sich mit den Händen durchs Gesicht. Auf dem Weg nach draußen schaltet er sein Handy ein und checkt es nach eingegangenen SMS und Anrufen. Aber niemand hat versucht, sich mit ihm in Verbindung zu setzen, auch nicht Arne oder Philip. Nach wie vor befindet sich sein Leben in einer Art Schwebezustand; schwerelos und ohne Ziel treibt er zwischen Vergangenheit und Zukunft, wie ein Luftballon, der einer unachtsamen Kinderhand entglitten und zu einem Spielzeug des Windes geworden ist. Die Vorstellung verursacht ihm Übelkeit.
II. Geisterbeschwörung
Lying in my bed I hear the clock tick,
and think of you
Caught up in circles, confusion –
is nothing new,
Flashback – warm nights –
almost left behind
Suitcases of memories,
Time after –
Cyndi Lauper – Time after Time
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Jakob hat seinen Schreibtisch aufgeräumt, um für sein Vorhaben Platz zu schaffen. Wobei das Wort „aufräumen“ großzügig interpretiert ist. Eigentlich hat er nur den Wust der Unterlagen, die sich um den Monitor seines Rechners stapeln, zur Seite geschoben, hat Stifte, Notizzettel, Rechnungen, CD-Rohlinge und Kalender mit seinem Ellenbogen an das linke Ende des Tisches verbannt, bis die Arbeitsplatte wieder zum Vorschein kam. Auch die Fotos aus dem Karton in der Abstellkammer hat er wieder herausgekramt, als Gedächtnisstütze, als Halt. Sie liegen auf dem Boden neben ihm, kreuz und quer verstreut wie buntes Herbstlaub, das in seine Wohnung geweht wurde.
Anfangs wollte er seine Erinnerungen an Marius auf dem Computer niederschreiben, aber nachdem er eine Viertelstunde auf ein geöffnetes, leeres Word-Dokument gestarrt und den blinkenden Cursor hypnotisiert hat, hat er den PC ausgeschaltet und Maus und Tastatur auf den nutzlosen Haufen zu seiner Linken geräumt. Es fühlte sich nicht richtig an, Marius einem Computer anzuvertrauen. Zu verführerisch ist die Gefahr des schnellen Korrigierens, der Schönfärberei. Mit ein paar einfachen Tastenberührungen wird aus Wahrheit Fälschung, aus Ehrlichkeit Lüge. Jetzt liegen ein
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