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Wie Jakob die Zeit verlor

Wie Jakob die Zeit verlor

Titel: Wie Jakob die Zeit verlor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Stressenreuter
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wieder gefragt, woran Marius denn eigentlich gestorben sei. Und jedes Mal, wenn ich versucht habe zu erklären, dass er Aids gehabt hat, hat sie mich mit so einem merkwürdigen, ungläubigen Lächeln angesehen und gesagt: „Aber, Herr Jakob, woher soll er so was denn gehabt haben?“
    Irgendwann habe ich diese Fragen nicht mehr ausgehalten und meine Besuche eingestellt.
    Eine späte Erinnerung, vielleicht vier Wochen vor Marius’ Tod. Ich bin von der Uni nach Hause gekommen, irgendwann an einem frühen Abend, ziemlich müde und abgespannt. Als ich die Tür aufschloss, hörte ich schon die würgenden Geräusche aus dem Badezimmer. Marius hing über der Kloschlüssel, die Hände um das Becken gekrallt. Am Morgen hatte er seine erste Chemotherapie erhalten. Seine Stirn war klatschnass geschwitzt, die Haare klebten an seinem Kopf. Als ich ihn angefasst habe, habe ich gemerkt, dass er vor Fieber glühte. Er hatte diesen hoffnungslosen, verzweifelten Blick in seinen Augen, als er mich angesehen hat. Ich habe ihm hochgeholfen und in sein Zimmer geschleppt – wenn er krank war, wollte er immer allein schlafen, in seinem Einzelbett in seinem Zimmer, sonst haben wir die Nacht immer im Doppelbett in meinem Zimmer verbracht – und habe ihn warm eingepackt, weil er inzwischen zitterte. Danach habe ich einen Eimer neben das Bett gestellt und Marius Tee eingeflößt. Die ganze Zeit haben wir nicht ein Wort miteinander geredet. Zum einen war es nicht nötig, zum anderen hätte keiner von uns beiden gewusst, was er hätte sagen sollen. Trumi ist auf das Kopfkissen gesprungen und wollte Marius trösten und fing an, ihm durchs Gesicht zu lecken.
    „Nimm ihn weg“, hat Marius plötzlich gekeucht, „sonst steckt er sich an meinem Schweiß an.“
    Es ist fast zu viel. Jakob spürt, dass es seine Kräfte übersteigt, diese Erinnerungen aufzuschreiben. Alles kommt wieder, alles stürzt erneut auf ihn ein. Die Angst, die Hoffnungslosigkeit, die Trauer dieser Jahre. Und über all diesen Emotionen das alles durchdringende Gefühl der Irrationalität, des Unglaubens, des Nicht-Wahrhaben-Wollens. Dass so etwas wirklich geschehen konnte, dass es ausgerechnet ihnen passierte.
    „Ich kann das nicht“, murmelt er und starrt aus dem Fenster. „Ich will das nicht.“ Und doch klammern sich Zeigefinger und Daumen wieder um den Kuli und reichen Silky Legs zwei letzte Erinnerungen zum Sezieren an.
    Manche Daten sind ja im kollektiven Gedächtnis eines Volkes gespeichert. Meine Mutter zum Beispiel weiß noch genau, was sie an dem Tag gemacht und gedacht hat, als die Mauer gebaut wurde, meine Großmutter konnte sich noch genau an den Tag erinnern, als sie die erste D-Mark nach der Währungsreform in der Hand hielt. Der 9. November 1989, der Tag, an dem die Mauer gefallen ist, ist auch so ein Datum.
    Marius und ich haben abends vor dem Fernseher gesessen und uns das Schauspiel live und in Farbe angesehen. Marius hat seinen weißen Bademantel getragen; sein Gesicht war voller Kaposi-Sarkome, überall rötlich-braune Schwellungen. Aber zumindest für den Moment hatten wir unsere eigenen Sorgen vergessen, weil wir doch von dem, was sich vor unseren Augen entfaltete, gefesselt waren. Die Fassungslosigkeit der Reporter war zu spüren, genau wie die der Menschen, die plötzlich zu Fuß oder in ihren Trabis durch die Grenzübergänge gelassen wurden und in den Westen hinüberschwappten. Und dann die ersten Leute, die johlend und grölend auf die Mauer kletterten, Bierflaschen und Deutschlandfahnen schwenkten, während im Hintergrund die Vopos standen und ganz offensichtlich nicht den leisesten Schimmer hatten, wie sie mit dieser Situation umgehen sollten.
    „Ist ja doch irgendwie rührend, sich das anzusehen“, hat Marius gesagt. Zum ersten Mal seit Wochen habe ich ihn lächeln sehen in diesem Moment.
    Und dann hat er die Arme hinter dem Kopf verschränkt, und ich habe bemerkt, wie sein Lächeln plötzlich erstarrte. Er nahm die Hände vom Hinterkopf und hielt ein Büschel Haare in den Fingern. „O nein“, hat er geflüstert, „nicht das.“
    Meine allerletzte Erinnerung an Marius ist eine Einbildung, ein Streich, den mir meine Gehirnzellen gespielt haben. Ein paar Tage nach seinem Tod, aber noch vor seiner Beerdigung. Genauer gesagt, am Morgen seiner Beerdigung. Ich bin aufgewacht, und in der Wohnung war alles ganz still. Ich weiß noch, dass ich mich gefragt habe, wie ich in Zukunft diese Stille aushalten soll. Den Kater hatten wir schon zur

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