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Wie Jakob die Zeit verlor

Wie Jakob die Zeit verlor

Titel: Wie Jakob die Zeit verlor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Stressenreuter
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was mich noch weiter von ihm entfernt hat. Aber an diesem Abend haben wir uns noch mal zusammengerissen. Das Essen war gut – irgendwas mit Pute, glaube ich –, und wir haben alle ziemlich viel getrunken und Blödsinn gemacht und gelacht, sogar Marius, nur Sascha war stiller als gewöhnlich.
    Am nächsten Mittag hatte ich einen ziemlichen Kater. Ich weiß noch, dass ich das Leergut zum Altglas-Container gebracht habe, es waren zehn Flaschen Wein. Und als ich zurückkam, hat mich Marius schon an der Tür abgefangen und gesagt, dass gerade das Telefon geklingelt hat. Sascha hatte sich umgebracht, nachdem er am Tag zuvor sein positives Testergebnis erhalten hatte. Er ist vom Balkon seiner Wohnung gesprungen, zehnter Stock, Unicenter-Hochhaus. Die ganze Zeit hat er am Abend mit uns zusammengesessen und kein Wort gesagt.
    Für ein paar Wochen hat das Marius und mich noch mal einander näher gebracht.
    Jakob hat gar nicht gemerkt, wie schnell die Zeit vergangen ist, während er schreibt. Erst der anbrechende Abend erinnert ihn daran, dass es Zeit ist, seine Medikamente zu schlucken. Die Einnahme ist zu einer Gewohnheit geworden, zu einer Alltagshandlung, über die er nicht mehr nachdenkt. Eine blaue Tablette, eine weiße, eine bunte, möglichst regelmäßig, möglichst im Abstand von zwölf Stunden. Aids ist zu einer chronischen Krankheit degradiert worden so wie Bluthochdruck, Asthma und Osteoporose.
    Er ist dankbar für die Pause. Mittlerweile pulsiert ein dumpfer Schmerz in seinem Handgelenk und seine Wirbelsäule ist das lange, gebückte Sitzen auch nicht gewöhnt. Abgesehen von dem matten Schein der Schreibtischlampe ist die Wohnung in Dunkel gehüllt. Hin und wieder springen Schatten die Wände entlang, wenn das Licht eines vorbeifahrenden Autos von den gegenüberliegenden Häusern reflektiert und nach oben geworfen wird. Der Kater hat sich auf dem Sofa zusammengerollt und schläft; seine Ohren zucken, als Jakob auf Strümpfen an ihm vorbeiläuft. Irgendwo auf der Straße vier Stockwerke unter ihm scheppert eine Blechdose den Asphalt entlang, und Jakob meint eine Stimme seinen Namen rufen zu hören, aber als er an eines der Fenster zur Straßenseite tritt, ist Nebel aufgezogen und versperrt ihm die Sicht. Wahrscheinlich nur ein paar betrunkene Rowdys, wahrscheinlich hat er sich verhört.
    Nachdem er aus dem Badezimmer zurückkommt, bleibt Jakob einen Moment unentschlossen vor dem Schreibtisch stehen. Er hat schon lange nicht mehr an Sascha gedacht, und er fürchtet sich vor den nächsten Erinnerungen. Nach Saschas Tod schien alles bergab zu gehen, als hätte das Schicksal nur auf den Startschuss gewartet.
    Marius’ Eltern waren bei uns zu Besuch, irgendwann, nachdem wir wieder zusammen waren, also wahrscheinlich Anfang 1989. Wir hatten einen Stuhl in die zweite Etage des Treppenhauses gestellt, damit sie sich auf dem Weg nach oben in den fünften Stock ausruhen konnten. Ich erinnere mich, dass Marius damals schon nicht mehr zum Studium nach Koblenz gefahren ist, weil er ansonsten seine vielen Arzt- und Behandlungstermine nicht geschafft hätte. Seinen Eltern hat er das natürlich verheimlicht, die durften nichts von alldem wissen.
    Beim Kaffeetrinken blinzelte Marius’ Mutter durch ihre Brille und deutete dann plötzlich auf ein Kaposi-Sarkom an seiner Schläfe. „Hast du dich gestoßen, mein Junge?“, hat sie gefragt. Marius hat mich hilflos angesehen. Einen Tag zuvor hatte er sich extra Theaterschminke besorgt, damit die Flecken nicht auffielen, und vor dem Besuch seiner Eltern hat er eine Viertelstunde im Badezimmer versucht, die Flecken zu übertünchen, ohne Erfolg. Er wollte gerade irgendwas sagen, irgendwas, was seine Eltern ablenkt, nehme ich an, als ihm sein Vater das Wort abgeschnitten hat.
    „Spätpubertäre Akne“, hat er mit einem dröhnenden Lachen gesagt.
    „Friedhelm, das ist doch Unsinn“, hat Frau Janssen erwidert. „Der Junge ist ein erwachsener Mann.“
    Auf der einen Seite waren wir beide unglaublich froh, dass das Thema damit erledigt zu sein schien, auf der anderen Seite hätte ich seinen Eltern am liebsten die Fresse poliert. Weil sie sich mit so einer Albernheit zufrieden gaben.
    Ich weiß bis heute nicht, ob sie wirklich zu alt, zu weltfremd waren, um zu verstehen, was vor sich ging, oder ob sie einfach nicht verstehen wollten. Selbst später, als Marius schon Jahre tot war und auch sein Vater nicht mehr lebte, hat mich seine Mutter bei meinen monatlichen Anstandsbesuchen immer

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