Wie Jakob die Zeit verlor
geöffnet, den Duschvorhang zur Seite geschoben – und sich bepisst vor Lachen. Dann hat er ganz cool Christoph begrüßt, ist aus dem Bad herausgekommen und hat grinsend gesagt, dass er eine Viertelstunde spazieren geht. Ich habe gedacht, er kommt nie wieder – auch wenn wir bewusst keine monogame Beziehung hatten. Als Christoph ziemlich verstört verschwunden war und Marius wieder auftauchte, wusste ich vor Erleichterung gar nicht, wohin mit mir.
Jakob unterbricht und schüttelt sein schmerzendes Handgelenk aus. Er ist es nicht mehr gewöhnt, lange Texte mit der Hand zu schreiben. Wann hat er den letzten Brief verfasst? Vor zehn Jahren, vor zwanzig? Es erscheint ihm wie eine aussterbende Schriftform. Wenn es auf der Welt in den nächsten hundert Jahren zu einer Katastrophe kommt – und Jakob ist überzeugt davon, dass es eine geben wird; im Moment tippt er auf das Klima, früher hat er fest mit einem Atomkrieg gerechnet – und spätere Archäologen Ausgrabungen unternehmen, werden sie von den westlichen Zivilisationen des 21. Jahrhunderts keine schriftlichen Überlieferungen finden, sondern nur verrottete, unlesbare Mikrochips.
Clinton schnurrt um seine Beine und springt dann mit einem Satz auf den Tisch, reibt den Kopf fordernd an seinem Arm. Jakob sieht auf die Uhr: Der Kater hat Hunger, übers Schreiben hat er vergessen, seinen Fressnapf zu füllen. Er geht in die Küche, gibt Clinton eine halbe Dose Katzenfutter und macht sich einen Tee, Red Chai, seine Lieblingssorte. Draußen verabschiedet sich der Tag; die Straßenlaternen leuchten auf, als Jakob gedankenverloren und mit einem dampfenden Becher in der Hand an den Schreibtisch zurückkehrt. Sein Unwille ist fürs Erste einer überraschten Konzentration gewichen. Er hat vergessen, sich zu fragen, warum seine Therapeutin ihn aufgefordert hat, über Marius zu schreiben. Für den Moment ist ihm daran gelegen, die Erinnerungen so präzise wie möglich festzuhalten. Wie der Regisseur eines Dokumentarfilms gefällt er sich in der Rolle des neutralen Beobachters.
Eine der wenigen guten Erinnerungen an unsere gemeinsame Wohnung, also 1988 oder später. Es war Nachmittag und Marius hat auf dem Bett in seinem Zimmer gelegen und einen alten Ralf-König-Comic gelesen, während ich in meinem Zimmer an irgendeinem Thesenpapier für ein Geschichtsseminar gearbeitet habe. Zwischendurch habe ich ihn immer mal wieder glucksen und kichern hören. Dann plötzlich ein Wiehern und Klopfen, das überhaupt nicht mehr aufhörte, und ich bin panisch zu ihm gerannt, in der Annahme, es wäre irgendetwas passiert. Ich habe immer das Schlimmste angenommen, bin immer vom größten anzunehmenden Unglück ausgegangen. Aber Marius hat sich nur vor Lachen gekrümmt und mit der Faust auf den Rahmen seines Bettes geschlagen. Er hatte den Comic mit der Banane im Arsch wiederentdeckt.
Klopfen. Das erinnert mich an etwas anderes, vielleicht zur selben Zeit. Marius hatte die Nacht in seinem eigenen Bett verbracht, weil er sich am Abend nicht besonders gefühlt hatte. Am Morgen wurde ich wach, weil die Heizung neben meinem Schreibtisch so merkwürdige, scheppernde Geräusche von sich gab. Genau, es muss irgendwann im Sommer gewesen sein, denn ich erinnere mich, dass ich mich gewundert habe, weil wir die Heizung noch gar nicht aufgedreht hatten.
Ich bin aufgestanden und in die Küche gegangen, um Kaffee aufzusetzen, und dabei habe ich ein lautes Klopfen und Stöhnen aus Marius‘ Zimmer gehört. Als ich seine Tür öffnete, lag er völlig verkrampft und halbnackt auf seinem Bett, in der Hand eines seiner Matchboxautos, mit dem er gegen die Heizung schlug.
„Endlich!“, hat er gekeucht. „Ich brülle mir seit Stunden die Lunge aus dem Leib! Wieso hörst du mich nicht?“
„Weil ich geschlafen habe. Was ist mit dir?“
„Ich habe einen Hexenschuss. Ich kann mich nicht mehr bewegen.“
Ich musste meinen Hausarzt anrufen, der dann eine Stunde später kam und Marius eine Spritze gegeben hat.
Am nächsten Tag, als die Schmerzen besser waren, konnte Marius über die Szene auch lachen.
Eine ganz kurze Erinnerung, wie ein zufälliger Schnappschuss, nicht mehr als ein paar Sekunden lang. Nach Marius’ Tod habe ich eine Zeitlang tatsächlich gedacht, das Bild existiere als Fotografie, und habe es überall gesucht. Aber es ist wohl doch nur in meinem Kopf vorhanden, wenn auch so scharf, dass ich manchmal denke, ich könnte danach greifen.
Marius liegt ausgestreckt (und angezogen) auf seinem
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