Wie Jakob die Zeit verlor
vielleicht Pizza?“, grinst Arne. „Die kann man notfalls auch in die Hand nehmen.“
„Nee, nicht schon wieder Pizza. Hatten wir gestern.“
„Dann Brauhaus“, schlägt Arne vor. „Ich habe Lust auf etwas Deftiges.“ Instinktiv vermeidet er es, ein besseres Restaurant zu nennen, als hätte er Angst, dort mit Philip gesehen zu werden.
„Brauhaus?“ Philip überlegt. „Na schön, warum nicht?“
„Begeistert klingt anders.“
„Ich war eben noch nie in so was drin. Ist das nicht voll spießig? So mit Hirschgeweihen an der Wand und so?“
„Du lebst in Köln und warst noch nie in einem Brauhaus?“ Arne kann es kaum glauben. „Und nein, es ist nicht voll spießig. Kann sogar Spaß machen.“
Obwohl es ein Tag mitten in der Woche ist, sind in der Wirtschaft fast alle Tische belegt, aber Arne erspäht drei Gäste, die gerade aufbrechen, und sichert den Tisch für Philip und sich. Der Geräuschpegel ist hoch, Gesprächsfetzen driften zu ihnen herüber, als Arne seine dünne Jacke über die Stuhllehne legt. An der Wand, neben einigen Drucken, die ein mittelalterliches Köln zeigen, hängt ein Foto von Bill Clinton, der hier während eines Staatsbesuchs gegessen hat. Mehrere blau beschürzte Kellner hasten mit Bierkränzen durch die Reihen, ersetzen leere Gläser unaufgefordert durch volle, balancieren Teller mit dampfenden Gerichten in ihren Armbeugen und stellen sie mit einem knappen Nicken auf blanke, rustikale Holztische.
Philips Blick streift durch den Raum, dann fixiert er plötzlich starr die Speisekarte. „Schnitzel“, presst er zwischen schmalen Lippen hervor, ohne zu lesen. „Wiener Schnitzel und …“
„Willst du nicht lieber was von den Spezialitäten probieren? Hier gibt’s Hirschgulasch und Semmelknödel.“
„… dreh dich jetzt nicht nach hinten. Da ist Kundschaft von mir. Scheiße. Der Sack.“
Natürlich kann Arne sich nicht beherrschen. Am Tisch hinter ihnen sitzt ein Mann um die sechzig, allein, mit einem verquollenen Gesicht und fettigen, dünnen Haaren, der offensichtlich schon zu viel getrunken hat. Vor ihm steht ein halbleeres, aber mit Sicherheit nicht sein erstes Kölschglas, daneben zwei leere Schnapsgläser. Immer wieder rutschen seine Ellbogen von der Tischkante, immer wieder versucht er vergeblich, sich aufzustützen. Sein glasiger Blick stiert Philip an.
„So was lässt du an dich ran?“, rutscht es Arne heraus. „Diesen schmierigen Kerl?“ Er ist fassungslos.
„Nur ein Mal“, fährt Philip auf. „Ich war total blank. Ich brauchte die Kohle.“
„Trotzdem, ich …“
„Red mir nicht in mein Leben rein, Mann“, sagt Philip.
Der Mann steht ruckartig auf, schwankt einen Moment, bis er sein Gleichgewicht gefunden hat, und kommt dann mit unsicheren Schritten an ihren Tisch. Arne kann seine Alkoholfahne riechen und rutscht angewidert so weit wie möglich von ihm weg, aber der Mann hat sowieso nur Augen für Philip.
„Na, Süßer, wie wär’s noch mal mit uns beiden?“ Er hat den schweren Zungenschlag eines Betrunkenen, und seine linke Hand kommt vertraulich auf Philips Schulter zu ruhen. „Ich geb dir zwanzig Mäuse, wenn ich ihn dir noch mal lutschen darf.“
Philip ist weiß wie ein Bettlaken. Seine Hände zittern, während er krampfhaft auf die Speisekarte sieht.
„Komm schon“, drängt der Mann. „Damals hast du dich auch nicht so geziert!“ Er grinst ein obszönes, gelbzähniges Grinsen. „Oder glaubst du, du bist jetzt was Besseres?“ Sein Blick streift Arne, nimmt dessen gepflegtes Äußeres zur Kenntnis, die Markenjeans, das Polohemd.
Um sie herum verstummen verunsichert die Gespräche, die anderen Gäste bemerken, dass etwas nicht stimmt. Köpfe drehen sich herum, und Arne versteinert innerlich. Plötzlich ist er völlig hilflos, wie gelähmt; am liebsten würde er vor Scham im Erdboden versinken. Er öffnet den Mund, aber er bringt keinen Ton heraus und schaut betreten auf den Tisch.
Als die Hand des Mannes über Philips Haare streichen will, zuckt Philip zusammen, als hätte ihn ein elektrischer Schlag getroffen. Er stößt die Hand weg, springt auf, und sein Stuhl kippt polternd nach hinten, dann schubst er den Mann mit beiden Händen von sich. Der Freier torkelt überrascht ein paar Schritte zur Seite und kann sich gerade noch an der Tischplatte des Nachbartisches fangen.
„Fass mich nicht an!“, brüllt Philip mit wutverzerrtem Gesicht. „Du Stück Scheiße!“
Aus dem Hintergrund eilen zwei Kellner herbei, um die
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