Wie Jakob die Zeit verlor
dessen unstillbarer Hunger nach Nähe, seine nie enden wollende Gier nach Liebe. Wie ein Süchtiger dem nächsten Schuss, so fieberte Stefan Jakobs Küssen entgegen, den Berührungen seiner Hände und Lippen, mal sanft, mal fordernd, aber immer noch mehr wollend. Niemals zuvor hatte sich Jakob so mächtig gefühlt, niemals so unzureichend. Aber Stefan gab auch, großzügig, verschwenderisch, als besäße er einen schier unerschöpflichen Schatz an Zärtlichkeiten, und Jakob sehnte sich nach der Vertrautheit seines Körpers, seines Lachens, seiner Stimme, wenn er nicht bei ihm war. War bald genauso süchtig wie Stefan. Es waren gestohlene Nachmittage und Nächte, die sie zusammen verbrachten, die Tür zu Stefans Wohnung fest hinter sich geschlossen, damit die Welt ihnen nicht zu nahe kam. Eine Welt, die Jakob mehr und mehr vergessen wollte.
„Bist du okay?“, fragte Stefan schläfrig. Er zündete eine Zigarette an und reichte sie an ihn weiter. Er mochte den Rauch in Jakobs Atem, es törnte ihn an.
Einmal hatte Jakob ihn deswegen veralbert, hatte den Qualm ausgestoßen wie ein rußiger Schornstein, wie eine Dampflokomotive.
Stefan hatte sich irritiert weggedreht. „So meine ich das nicht.“
„Wie meinst du es dann?“, hatte Jakob gefragt.
„Der Geruch der Zigaretten … er macht dich irgendwie maskuliner.“
„Dann bin ich dir also nicht männlich genug?“ Jetzt war es Jakob, der sich verletzt gefühlt hatte.
„Du verstehst mich nicht. Du verstehst mich absichtlich falsch.“
Marius dagegen hasste es, dass Jakob hin und wieder rauchte. Er weigerte sich, ihn zu küssen, wenn er kurz vorher eine Zigarette zwischen den Lippen gehabt hatte. „Du riechst wie ein Aschenbecher. Warum sollte ich jemanden küssen wollen, der nach Asche und Nikotin schmeckt?“
Nein, wollte Jakob jetzt antworten, ich bin nicht okay, aber das wäre Stefan gegenüber nicht fair gewesen. Er konnte nichts dafür, dass nichts mehr richtig und alles aus dem Lot gerissen worden war. Stattdessen schwieg Jakob und inhalierte das Nikotin, bis seine Lungen brannten.
Vor drei Wochen hatte es einen weiteren ihrer Freunde erwischt, Andreas, ganz plötzlich, ohne Vorwarnung: eine Lungenentzündung, gegen die kein Antibiotikum auszureichen schien. Vierzehn Tage hatte er sich im Krankenhaus gegen das Unvermeidliche gestemmt, hatte geschrien und getobt, geheult und gebettelt. War innerhalb weniger Tage von einem gutaussehenden Mann zu einem gebeugten Greis gealtert. Im Fieberdelirium hatte er sein Schwulsein verdammt und einem Racheengel Besserung gelobt, dann hatte er den Kampf aufgegeben.
Es war schon der dritte Tod innerhalb weniger Monate. Als ob sich dieses Jahr darin gefiele, Trauer zu tragen, sich mit Leid zu schmücken wie ein Weihnachtsbaum mit glitzernden Kugeln. Als ob es eine innere Befriedigung verspürte, in Jakobs und Marius’ Freundeskreis zu wüten. Erst Sascha, jetzt Andreas und davor Martin, den das Virus erst mit Erblindung schlug, bevor er sich am Wasting-Syndrom buchstäblich zu Tode schiss. Zum Schluss hatte sein Kopf ausgesehen wie ein Totenschädel und sein Körper wie der eines KZ-Häftlings.
Die Beerdigungen ließen Jakob seltsam taub werden, unempfindlich gegen den Schmerz, den er eigentlich hätte verspüren müssen. Er aß, er trank, mühte sich sogar weiter an seiner Magisterarbeit ab, redete, funktionierte. Aber alles geschah wie unter örtlicher Betäubung, als hätte ihm der Zahnarzt eine Spritze gesetzt. Nur bei Stefan gelang es ihm, diese Abgestumpftheit abzulegen, wieder er selbst zu sein, wieder zu fühlen.
Jakob drückte die Zigarette aus und lauschte den gleichmäßigen Atemzügen von Stefan. „He“, flüsterte er, „schläfst du schon?“
„Mhm.“
Geistesabwesend ließ er seine Hand über Stefans Rücken gleiten, spürte die Knochen der Wirbelsäule, der Schulterblätter. Bis vor ein paar Jahren war Stefan Leistungssportler gewesen, hatte Eishockey in der Kreisliga gespielt. Sein bulliger Körperbau und seine muskulösen Waden und Oberschenkel erinnerten an diese Zeit. Noch immer war es für Jakob ein Rätsel, wie ein solcher Mann ausgerechnet ihm verfallen war.
„Kannst du nicht bleiben?“, nuschelte Stefan verschlafen. „Bleib, und schlaf mit mir ein.“
„Und Marius? Ich hab ihm nicht Bescheid gesagt, dass ich die Nacht bei dir bleiben möchte.“
Stefan seufzte. „Ich weiß …“
Jakob lächelte traurig. Bei Marius zu sein, kam inzwischen der Ernüchterung nach einem Rausch
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